Mythen

Mythos: Lügen können anhand spezifischer Verhaltensindikatoren erkannt werden!

Projektarbeit 2020 I Geschätzte Lesezeit: 20 min

 

 

Eine Straftat so zu verhindern oder wahrheitsgemäß aufzuklären, wie Dr. Cal Lightman es in der Eröffnungsszene der US-amerikanischen Serie lie to me demonstriert, ist beeindruckend zu beobachten. Stellt man sich vor, dass Wahrheit und Lüge so einfach erkannt werden können, so würde das nicht nur das alltägliche Leben vieler erleichtern, sondern vor allem auch ein gerechteres Strafrechtssystem schaffen. Wenn Dr. Lightman schließlich den Ermittler:innen und uns als Zuschauer:innen seine Methodik und Vorgehensweise erläutert, wirkt die Sache weder allzu kompliziert noch besonders realitätsfern: Es gilt während einer Befragung sogenannte Mikroexpressionen zu erkennen. Diese sind sehr kurze Gesichtsausdrücke eines Gefühls und gelten als unbeabsichtigte und ehrliche Reaktion.[1] Wenn also geschulte Gesprächsführer:innen diese Mikroexpressionen zuverlässig erkennen können, so entdecken sie die wahren Ansichten und Motive ihres Gegenüber. Ähnlich wie im vorliegenden Fall scheint eine Aussage des Verdächtigen dann fast überflüssig, denn der Täter ist nach den Ermittlungen des FBI eindeutig überführt und der Fall gelöst. Natürlich ist klar: In der Realität ist es nicht ganz so einfach. Doch wie funktioniert Lügenerkennung? Und können Lügen durch Beobachtung von Reaktionen und Verhaltensweisen aufgedeckt werden?

Fragt man die Suchmaschine seiner Wahl, wie Lügen erkannt werden können, so finden sich unzählige Artikel, Berichte und Videos auf den verschiedensten Plattformen im Internet. Sie fassen sogenannte typische Verhaltens- und Ausdrucksmuster von Lügner:innen zusammen und haben meist zum Ziel, dass Leser- und Zuschauer:innen in Zukunft Lügen im Alltag leichter identifizieren können. Lügner:innen bauen laut Stereotyp beispielsweise weniger Blickkontakt zum Gegenüber auf und zeigen vermehrte Hand-, Kopf- und Fußbewegungen, welche den Eindruck eines „nervösen Zappelphilipps“ vermitteln.[2] Kommt Euch dieser Mythos, dass Lügner:innen anhand spezifischer Verhaltensweisen identifiziert werden können, bekannt vor? Falls ja, damit seid ihr nicht alleine. Studien haben gezeigt, dass die Vorstellung vom ‚typischen‘ Verhalten der Lügner:innen sowohl bei Laien als auch bei Polizist:innen und Richter:innen  besteht.[3] Auch in anderen Formaten aus Film und Fernsehen wird Zuschauer:innen vermittelt, dass beispielsweise genügend Erfahrung als Ermittler:in ausreiche, um an ‚charakteristischen‘ Verhaltensmustern zu erkennen, ob die Aussage der Lüge oder Wahrheit entspräche. Im Einklang dazu steht die Annahme, dass Menschen auf Basis von Film- und Fernsehgeschehen dargestellte Verhaltensweisen erlernen und ihre Urteilsbildung daran ausrichten.[4] Der Effekt, dass Informationen aus ‚bewegten Bildern‘ besser erinnert werden als aus verschriftlichen Quellen, auch wenn diese nicht auf tatsächlichen Fakten basieren beziehungsweise sich widersprechen, trägt zusätzlich dazu bei.[5] Man kann also schnell den Eindruck gewinnen, dass Lügen ähnlich wie in der Serie lie to me erkannt werden können. Daher soll der folgende Beitrag mit beschönigten und unrealistischen Methoden der Lügendetektion aus Film und Fernsehen aufräumen und den Mythos, Lügen könnten an spezifischen Verhaltensweisen erkannt werden, genau beleuchten. Dafür erhaltet Ihr einen Einblick in den aktuellen Stand der Lügenforschung sowie das Anwendungsfeld der ‚Lügenerkennung‘ (Beurteilung von Aussagen) im deutschen Strafrechtssystem.

Lügen über Lügen: Alltagslügen und Lügen im Strafrechtssystem

Lügen im Alltag sind nicht unbedingt eine Seltenheit und gelten als allgegenwärtig.[6] Jeder wird schon einmal ein „Wie geht es dir?“ unehrlich beantwortet oder Umstände und Aussagen verschönert haben, um höflich zu sein oder den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen. Studien nehmen an, dass Täuschungen und Lügen relativ häufig auftreten und Menschen durchschnittlich ein bis zwei Mal am Tag lügen.[7] Teilnehmer:innen gaben an, zwischen Null und mehr als 20 Mal innerhalb der letzten 24 Stunden gelogen zu haben. Dabei zeigt sich auch, dass die meisten gar nicht oder nur ein- bis zweimal täglich lügen und ein kleiner Anteil der Befragten (1 - 5 %) für einen Großteil beziehungsweise fast für die Hälfte aller Lügen verantwortlich ist.[8][9][10] Obwohl wir also alle täglich mit Lügen konfrontiert sind, sind Menschen nicht besonders gut darin, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Die Trefferquoten liegen meist nur etwas über 50% und entsprechen somit fast dem Zufallsniveau.[11][12] Kein Wunder also, dass die Idee eines zuverlässigen Lügendetektors allgemeine Faszination hervorruft.

Das Feld der Erforschung um Lügen und Lügenerkennung ist sehr breit gefächert und jeder Bereich setzt bei seiner Arbeit andere Schwerpunkte. An der Erforschung von Alltagslügen und wie man diese in seinem Gegenüber besser erkennen kann besteht, verständlicherweise, meist großes persönliches Interesse. Gleichzeitig wird angenommen, dass Alltagslügen eher banale Lügen sind und über die Beteiligten hinaus kaum Auswirkungen haben.[13] Im Strafrechtssystem ist das anders: Hier haben Lügen, die fälschlicherweise nicht erkannt werden, oder wahre Aussagen, die nicht als solche anerkannt werden, besonders schwerwiegende Konsequenzen - auch weil hierbei grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass Personen, die nicht die Wahrheit sagen, eine bewusste Täuschung vornehmen. Ein Szenario, welches dieses Spannungsfeld besonders illustrieren kann, ist eines, dass eine klassische „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation darstellt. Bei einer Fehlentscheidung über Lüge oder Wahrheit wird entweder eine unschuldige Person verurteilt oder ein tatsächliches Opfer nicht als solches anerkannt und ein:e Täter:in bleibt unbestraft und auf freiem Fuß. Verurteilungen im Strafrechtssystem haben somit nicht nur individuelle Konsequenzen, sondern wirken sich auch auf die Gesellschaft aus.[14]

Methoden der Lügenerkennung

In Deutschland gilt, dass Beweismittel, die zum Beispiel im strafrechtlichen Verfahren genutzt werden sollen, offiziell als solche anerkannt sein müssen. Wenn also eine Methode zur Lügenerkennung im deutschen Strafrechtssystem zum Einsatz kommen soll, dann gelten hier erhöhte Ansprüche an die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Methode. Zudem muss eine Methode, die sich im Forschungskontext als zuverlässig erwiesen hat, auch im strafrechtlichen Kontext anwendbar sein. Wissenschaftler:innen aus den Fachbereichen Recht und Psychologie beschäftigen sich somit nicht nur mit der Entwicklung zuverlässiger Instrumente zur Lügendetektion, sondern vor allem auch mit der Anwendbarkeit der Methoden im strafrechtlichen Alltag. Es folgt ein Überblick über die vielleicht geläufigsten Ansätze der Lügenerkennung aus Film und Fernsehen und deren tatsächlichen Nutzung im Strafrechtssystem.

Mikroexpressionen à la lie to me

Kommen wir noch einmal auf die Szene aus dem Eingangsvideo zurück: Über Mikroexpressionen wurde bereits 1969 von Ekman und Friesen berichtet, die diese als kurze Ausdrücke von Emotionen beschreiben, welche meist unbemerkt bleiben und von der offensichtlichen Aussage einer Person überspielt werden.[15] Somit schlussfolgerten sie, dass Mikroexpressionen Aufschluss über Täuschungen geben können. Je nach Definition dauern sie 1/25 bis 1/3 einer Sekunde an[16][17] und werden oft den sieben Basisemotionen zugeordnet. Diese Emotionen gelten als biologisch und universell und umfassen Überraschung, Ekel, Freude, Angst, Verachtung, Wut und Trauer, wobei in der Emotionsforschung auch andere empirisch fundierte Modelle zu Basisemotionen bestehen.[18] Um anhand von Mikroexpressionen Lügen erkennen zu können, wird die Annahme getroffen, dass sich emotionale Ausdrücke bei Personen, die lügen und bei Personen, die die Wahrheit sagen unterscheiden. Weit verbreitet ist zum Beispiel die Vorstellung, dass Lügner:innen Angst oder Scham empfinden, da sie fürchten beim Lügen erwischt und entsprechend sozial bestraft zu werden.[19] Diese Annahme gilt jedoch nicht als bestätigt: Einerseits gehen Lügen nicht immer mit negativen Emotionen einher, sondern werden durchaus routiniert und ganz ohne schlechtes Gewissen formuliert. Andererseits erleben andere Personen, die verdächtigt werden, aber unschuldig sind und die Wahrheit sagen, Angst, Wut oder Scham im Rahmen eines Verhörs.[20] Somit ist es nicht zielführend, das Erkennen von Mikroexpressionen zur Lügendetektion im Strafrechtssystem zu nutzen. Selbst wenn Mikroexpressionen von forensischer Relevanz wären, könnte eine Person alleine kaum die Befragung und Erkennung gleichzeitig leisten, so wie in lie to me oftmals dargestellt. Denn Mikroexpressionen treten nur relativ selten auf und sind meist schwach ausgeprägt.[21] Es wird jedoch weiterhin an der Erkennung von Mikroexpressionen geforscht: Aktuelle Bemühungen konzentrieren sich dabei vor allem auf video- und algorhitmusbasierte Erkennung, um diese zum Beispiel in Flughäfen und im öffentlichen Raum zu nutzen.

Non-verbale Lügenindikatoren – der nervöse Zappelphilipp

Würde es allen Lügner:innen ähnlich wie Pinocchio ergehen, so würde deren Nase bei jeder Lüge ein merkliches Stück wachsen und bei jeder wahren Aussage ihre Länge behalten. Es gäbe also ein körperliches Merkmal, dass eindeutig auf eine Lüge hinweist. Oft wird Verhaltensweisen wie Körper-, Kopf und Handbewegungen zugeschrieben, sie würden auf Lügen hindeuten. Auch Blickrichtungen, häufiges Zwinkern oder der Einsatz von Illustratoren (redebegleitenden Gesten) werden in diesem Kontext diskutiert.[22] Dabei wird einerseits davon ausgegangen, dass eine Zunahme dieser Verhaltensweisen auf eine Täuschung hindeutet, ebenso existiert aber die Annahme, dass eine Abnahme dieser Gesten zum klassischen Verhalten von Lügner:innen zählt. Auch in US-amerikanischen Polizeimanualen wurden die Vermeidung von Blickkontakt und der häufige Wechsel der Körperhaltung als Indikatoren des Lügens genannt, obwohl es dafür bis heute keine eindeutigen Belege  gibt.[23] Als theoretische Erklärung non-verbaler Lügenindikatoren können zwei in der Forschung etablierte Erklärungsansätze zur Interpretation herangezogen werden. Der Erregungsansatz, der davon ausgeht, dass Täuschungen bei denjenigen, die versuchen zu täuschen, eine erhöhte Erregung auslösen und deshalb typisch nervöse Verhaltensweisen zeigen. Und der Kontrollansatz, der erwarten lässt, das Lügner:innen sich besonders regulieren und sich eher gehemmt verhalten, um nicht beim Lügen erwischt zu werden.[24] Zusammenfassende Studien haben jedoch ergeben, dass es keine eindeutigen/zuverlässigen non-verbalen Indikatoren gibt, die mit Lügen einhergehen und nicht in wahren Aussagen auftreten.[25][26] Diese Verhaltensweisen können also sowohl bei gelogenen als auch bei wahren Aussagen auftreten und beispielsweise auf Nervosität oder Angst deuten. Zudem kann eine Befragungssituation ganz unabhängig von Lüge oder Wahrheit belastend sein und Angst sowie Nervosität hervorrufen.

Polygraph – der Klassiker unter den Lügendetektoren

Fällt der Begriff Lügendetektor, so denken viele wohl an Szenen aus US-amerikamischen Filmen und Serien und haben ein ungefähres Bild vor Augen: Eine verdächtige Person wird zur Befragung durch die Polizei an einen Apparat angeschlossen, der verschiedene körperliche Maße auf durchlaufendem Papier aufzeichnet. Ausschläge der aufgezeichneten Maße werden dabei kritisch beäugt. Dieses Gerät wird zwar umgangssprachlich als Lügendetektor bezeichnet, ist jedoch erst einmal nur ein Messinstrument, welches unterschiedliche Parameter aufzeichnet und deshalb Polygraph, also Vielschreiber, genannt wird. Schon im frühen 20. Jahrhundert wurde ein Gerät erfunden, welches auf Basis von Blutdruckmessungen Unwahrheiten und Täuschungen entdecken sollte.[27] Dieses diente, so wie vergleichbare Ansätze zur Aufzeichnung physiologischer Parameter, der Entwicklung des ersten Polygraphen durch John A. Larson im Jahr 1921.[28] Über die Jahre hinweg wurde der Polygraph weiterentwickelt. Heute zeichnet er meist kardiovaskuläre Aktivität (Puls und Blutdruck), die Änderung und Tiefe der Atemfrequenz und elektrodermale Aktivität (Änderung des Hautwiderstands durch Schwitzen) auf und visualisiert den Verlauf digital. Die zu Grunde liegende Theorie ist hier, dass psychologische Prozesse beim Lügen Änderungen dieser körperlichen Parameter hervorrufen. Eine Aufzeichnung der Parameter lasse somit Rückschlüsse auf diese Prozesse zu und könne helfen, Täuschungen und Lügen zu entdecken.[29] Da die körperlichen Reaktionen jedoch nicht grundsätzlich und eindeutig auf eine Täuschung zurückzuführen sind, kommt es, wenn es an die Interpretation geht, auf die Methode zur Befragung an.[30] Im Strafrecht sind der Kontrollfragentest und der Tatwissentest die zwei gängigsten Befragungstechniken, die in Kombination mit dem Polygraphen genutzt werden. Im Kontrollfragentest werden neutrale und tatbezogene Fragen sowie Kontrollfragen gestellt und die entsprechenden physiologischen Reaktionen verglichen. Problematisch ist dabei, dass die Fragen nicht standardisiert sind und aufgrund des Inhalts und der Struktur oft leicht voneinander zu unterscheiden sind. Somit können Unschuldige aber auch Täter:innen ihre Reaktionsweisen leicht an die Fragen anpassen.[31] Zudem stehen die theoretischen Annahmen hinter dem Kontrollfragentest in der Kritik und viele Forscher:innen lehnen das Verfahren ab, da eine ausreichende empirische Validierung fehlt.[32] Der Tatwissentest hingegen soll überprüfen, ob die tatverdächtige Person über spezifisches Tatwissen verfügt, also Details, die nur Ermittler:innen und Täter:innen kennen. Dafür werden beispielsweise Fragen zur Tatwaffe oder anderen spezifischen Gegebenheiten der Tat gestellt. Der Tatwissentest gilt in Laborstudien als zuverlässig, kann aber in Ermittlungsfällen zum Beispiel nicht mehr genutzt werden, sobald spezifisches Tatwissen an die Öffentlichkeit geraten ist.[33] Grundsätzlich gilt, dass die psychophysiologischen Maße, die anhand des Polygraphen erhoben werden, nicht immer problemlos und eindeutig zu interpretieren sind, denn es ist oft fraglich, ab wann eine gemessene physiologische Veränderung überhaupt bedeutsam ist.[34]

Der Einsatz von Polygraphen wird weltweit bis heute wiederholt diskutiert. In Deutschland ist nach der Sichtung wissenschaftlicher Gutachten die Verwendung von Polygraph-Verfahren als Beweismittel durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 17. Dezember 1998 - 1 StR 156/98 - BGHSt 44, 308 nicht anerkannt und vielmehr als „völlig ungeeignet“ eingestuft worden. In den USA stehen Befragungen mit Polygraphen teilweise auch in der Kritik, werden jedoch in Strafverfahren aber auch in Einstellungsverfahren sowie zur Überprüfung von Arbeitnehmer:innen nach wie vor genutzt.[35]

Glaubhaftigkeitsbeurteilung im deutschen Strafrechtssystem – wie wird es hier gelöst?

Bis hierhin sollte klar geworden sein, dass es trotz intensiver Forschungsbemühungen schwierig bleibt, die vielen Erkenntnisse über Lügen und Lügenerkennung auch tatsächlich zuverlässig im Strafrechtssystem anzuwenden. Die oben beschriebenen Methoden zur Lügenerkennung haben gemeinsam, dass sie ihren Fokus auf das Verhalten, also die physiologischen oder emotionalen Reaktionsweisen von Lügner:innen, legen. Ein alternativer Ansatz zur Erkennung von Täuschung ist der inhaltsorientierte Ansatz - hier steht der Inhalt der Aussage und nicht das Verhalten im Fokus. Dieser geht auf die Undeutsch-Hypothese aus dem Jahr 1967 zurück und besagt, dass wahre, auf einem Erlebnis basierende Aussagen, sich in Inhalt und Qualität von erfundenen Aussagen unterscheiden.[36] Diese Herangehensweise wird als kognitiver Ansatz zur Unterscheidung von Lüge und Wahrheit bezeichnet.[37] Es wird davon ausgegangen, dass es kognitiv aufwändiger ist, eine komplexe erfundene Aussage wiederzugeben als wahre erlebnisbasierte Aussagen zu tätigen.[38] Somit sollten Lüge und Wahrheit anhand inhaltlicher Kriterien unterschieden werden können.

Unter diesen Annahmen wurde die Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse (englisch: Criteria Based Content Analysis - kurz: CBCA) konzipiert, welche ursprünglich zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Kindern in Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt an Kindern entwickelt wurde.[39] Die CBCA ist aber ebenso für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Erwachsenen zu nutzen.[40] Die Beurteilung von Aussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Gerichts. In Ausnahmesituationen, beispielsweise bei problematischen „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellationen, kann ein Gutachten zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung beauftragt werden.[41] Dieses Gutachten wird von aussagepsychologischen Sachverständigen, meist Rechtspsycholog:innen, verfasst. Im Rahmen eines solchen Gutachtens wird grundsätzlich geprüft, ob eine getätigte Aussage auch genauso hätte entstehen können, ohne dass diese tatsächlich erlebnisbasiert ist.[42] Die CBCA ist dabei nur eine Methode, die zum Einsatz kommen kann. Auch das Reality Monitoring (RM)[43] ist  weit verbreitet und gilt als ebenso effektiv in der Unterscheidung von erlebnisbasierten und nicht erlebnisbasierten Aussagen.[44] Beide Methoden analysieren den Inhalt einer Aussage und beziehen dabei persönliche Faktoren und die individuelle Situation der aussagenden Person mit ein. Die CBCA selbst beruht auf insgesamt 19 Realkennzeichen, die als Kriterien für die Überprüfung der Aussage genutzt werden, es müssen jedoch nicht alle vorhanden sein.[45]  Dazu gehören beispielsweise allgemeine Merkmale der Aussage, wie quantitativer Detailreichtum und logische Konsistenz, aber auch andere Merkmale wie Schilderungen von Einzelheiten oder das Eingeständnis von Erinnerungslücken. Dass ein Eingeständnis von Erinnerungslücken für eine erlebnisbasierte Aussage spricht, mag im ersten Moment verwunderlich klingen, doch das menschliche Gedächtnis ist fehleranfällig und Erinnerungen sind oft nicht vollständig. Auch bei Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen muss die Fehleranfälligkeit des Gedächtnisses berücksichtigt werden, um die Zuverlässigkeit einer Aussage einschätzen zu können. Doch, so vielversprechend diese inhaltsanalytischen Methoden auch klingen, sie sind leider keine Allzweckwaffe der Lügenentdeckung. Sie sollten im Rahmen eines Gutachtens beispielsweise nicht als alleiniges Instrument eingesetzt werden, nur von geschulten Experten durchgeführt und im besten Fall von einem Zweitexperten kritisch hinterfragt werden. Und auch dann kann nicht mit absoluter Sicherheit zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden.[46] Außerdem haben Studien gezeigt, dass die CBCA beispielsweise in Fällen, die Sexualverbrechen oder Gewaltverbrechen in Partnerschaften betreffen, besser differenzieren kann als in anderen.[47] Dennoch ist die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbeurteilung eines der wenigen Instrumente, die im deutschen Strafrechtssystem tatsächlich Anwendung finden. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164 gelten hierfür wissenschaftliche Mindeststandards, die bei der Erstellung einer aussagepsychologischen Begutachtung eingehalten werden müssen. Auch wenn es also noch keine sichere Methode gibt, Lüge und Wahrheit zu trennen, ist die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbeurteilung in ausgewählten Fällen das vorerst zuverlässigste Mittel.

Mythos Lügendetektion – Ein Fazit

Bevor hier ein Fazit gezogen werden kann, gilt es noch einmal zu betonen: Der Themenbereich Lügendetektion ist vielschichtig und komplex. Es gibt fortlaufend neue Studien und Erkenntnisse, die sowohl unter den forschenden Wissenschaftler:innen als auch von praktizierenden Berufsgruppen wie Rechtsanwält:innen, Richter:innen und Rechtspsycholog:innen auf ihre Anwendbarkeit hin diskutiert werden. Dementsprechend erhebt dieser Beitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll vielmehr einen Einblick in die Komplexität der zuverlässigen Lügenerkennung geben.

Kommen wir noch einmal zurück zum Mythos der Lügendetektion: Können Lügner:innen nun anhand spezifischer Verhaltensweisen identifiziert werden? Der obige Einblick in die Forschung zeigt, dass trotz vielfältiger Anstrengungen bisher keine zuverlässige Methode der Lügenerkennung anhand eindeutiger Verhaltensweisen entwickelt werden konnte. Somit steht die Idee, dass dies einmal möglich sein könnte natürlich weiterhin im Raum, eindeutige empirische Befunde liegen jedoch nicht vor. Grundsätzlich können wir also festhalten: Eine Erkennung der Lüge anhand von physiologischen Veränderungen beispielsweise mithilfe eines Polygraphen, die Identifikation und Interpretation von Mikroexpressionen oder die Intuition erfahrener Ermittler:innen, welche die angeblich ‚typischen‘ Verhaltensweisen erkennen und somit Lüge von Wahrheit unterscheiden können, sind nicht realistisch. So wie die Lügendetektion in Film und Fernsehen oft dargestellt wird, ist sie in der Realität weder zuverlässig noch entspricht sie den Standards im deutschen Strafrechtssystem. Gleichzeitig sind die dargestellten Ermittlungsmethoden und Ansätze aber auch nicht erfunden oder gar an den Haaren herbeigezogen, sondern existieren so oder so ähnlich in der Forschung oder sogar in der Praxis. Bis heute gibt es intensive Bemühungen diese bestehenden Ansätze zur Lügendetektion weiter zu entwickeln. Der vergleichsweise junge Forschungsbereich der Neurowissenschaften untersucht beispielsweise die neuronale Aktivität verschiedener Hirnregionen während des Lügens, um neue Erkenntnisse zu erlangen. Doch auch dieser Forschungsansatz steht vor verschiedenen wissenschaftlichen, sozialen und rechtlichen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, um eine zuverlässigen Lügendetektion im Strafrechtssystem zu ermöglichen.[48]

Was wir Euch also vor allen Dingen mitgeben möchten, ist ein kritischer Blick auf die allgemeine Darstellung der Lügenerkennung im öffentlichen Raum - sei es in Filmen, Serien, Videos, Artikeln oder wo auch immer Ihr auf das Thema trefft. Weltweit werden unterschiedliche Instrumente verwendet, um die Lügenerkennung im Strafrechtssystem anwendbar zu machen - eine Allzweckmethode gibt es schlicht und einfach (noch) nicht. Somit bedarf es weiterhin viele Hürden der verschiedensten Art zu überwinden, um Täuschungen und Lügen im Strafrechtssystem einmal zuverlässig identifizieren zu können.

 

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Referenzen

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[3] Sporer, S. L. & Köhnken, G. (2008). Nonverbale Indikatoren von Täuschung. In R. Volbert & M. Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie (S. 353-363). Göttingen: Hogrefe Verlag.

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Lügen über Lügen: Alltagslügen und Lügen im Strafrechtssystem

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Methoden der Lügenerkennung

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Mythos Lügendetektion – Ein Fazit

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Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Lügenquiz

[49] Splendid Research GmbH (2018). Studie: Ehrlichkeit - Wie viel Pinocchio steckt in den Deutschen? Eine repräsentative Umfrage unter 1.024 Deutschen zum Thema Ehrlichkeit. https://www.splendid-research.com/de/studie-ehrlichkeit.html

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Mythos: Stalking ist bloß ein Ausdruck von Liebe!

Projektarbeit 2020 I Geschätzte Lesezeit: 20 min

 

 

In dem US-amerikanischen Liebesfilm Wie ein einziger Tag (Originaltitel: The Notebook) beginnt mit dieser Szene die große Liebesgeschichte von Allie und Noah. Noah verliebt sich auf den ersten Blick in Allie. Die ist aber zunächst wenig begeistert und weist seine Bitte um ein Date zurück, was ihn dazu bringt zu einer „großen“ Liebesgeste zu greifen: Er droht damit sich vom Riesenrad fallen zu lassen, solange sie keinem Date zustimmt. Allie lehnt zunächst erneut ab, gerät schließlich aber so unter Druck, dass sie seinem Wunsch nachgibt. Später verliebt sich Allie in Noah. Und wie wir es nicht anders von Hollywood gewohnt sind, bleiben sie bis an ihr Lebensende ein Liebespaar. Diese und andere Szenen begegnen uns häufig in Liebesfilmen und -komödien. Sie lassen uns glauben, wer sich genug Mühe gibt, kann das Herz von Angebeteten gewinnen. Teils drehen sich ganze Streifen im Kreis von ständigen Eroberungsversuchen und wiederholter Zurückweisung (z.B. Verrückt nach Mary oder Management). Die Verehrer:innen verfolgen ihre:n Geliebte:n, um zufällige Begegnungen herbeizuführen oder stellen sich vor die Tür und singen Liebeslieder. Am Ende schweben die Beteiligten dann meistens gemeinsam auf Wolke Sieben. Ganz schön romantisch das alles oder sind wir da etwa in eine Falle getappt? Während wir so mit den Figuren im Film lachen und weinen, wird übersehen, dass die Handlungen aufdringlich sind, Grenzen überschreiten und an Stalking erinnern. Aber was hat Stalking tatsächlich mit einem harmlosen Liebeswahn zu tun, von dem sich die Angebeteten geschmeichelt fühlen?

In der Gesellschaft kursieren verschiedene Irrtümer zum Thema Stalking, welche bereits in wissenschaftlichen Studien untersucht wurden. Sowohl unter Polizist:innen, als auch unter medizinischem Fachpersonal und Laien sind Annahmen vertreten, dass Stalking eine Form der Liebesbekundung ist, von der sich die angebetete Person geschmeichelt fühlt.[1] Diesem Mythos wollen wir in diesem Artikel auf die Spur gehen. Dafür werfen wir einen Blick darauf, was genau Stalking ist, was die Motive der Täter:innen sind und welche Folgen es für die Opfer hat.

Let’s start: Was Stalking wirklich ist

Der Begriff stalken hat sich mittlerweile in unserer Alltagssprache etabliert. Suchen wir nach dem Instagram-Profil des süßen Typen aus der Uni, kommt schnell die Frage einer Freundin: „Wen stalkst du denn da schon wieder?“. So leicht einem das Wort über die Lippen geht, so schwer ist es, Stalking greifbar zu machen. Die Frage ist: Wo fängt Stalking an? Sich ein Instagram-Profil anzuschauen, reicht noch nicht aus, um von Stalking sprechen zu können. Was jedoch im Film romantisch und harmlos anmutet, deutet an, was in der Realität unter Stalking verstanden wird.

Der juristische Begriff des Stalkings entwickelte sich Ende der 80er Jahre in den Vereinigten Staaten, infolge des Mordes an der Schauspielerin Rebecca Schaeffer, die von ihrem Stalker Robert Bardo erschossen wurde. Daraufhin wurde ein Gesetzgebungsprozess angestoßen, welcher auch in Europa zum Umdenken anregte.[2] In Deutschland wurde der Straftatbestand der Nachstellung (Stalking) schließlich am 22. März 2007 ins Gesetz aufgenommen (BGBl. I S. 354). Da Stalking nicht immer mit handfesten körperlichen Schäden oder Sachschäden einhergeht, sondern sich häufig aus mehreren Verhaltensweisen zusammensetzt, welche jede für sich genommen keinen eigenen Straftatbestand erfüllt, muss die Definition im Strafgesetz entsprechend angelegt sein.[3] Im deutschen Strafgesetzbuch wird dem seit der letzten Änderung 2017 nachgegangen, indem beharrliche Verhaltensweisen, die die Lebensgestaltung einer Person potenziell schwerwiegend beeinträchtigen, als Stalking definiert werden (§ 238 Absatz 1 Satz 1 StGB). Darunter fallen auf der einen Seite Verhaltensweisen wie das Aufsuchen räumlicher Nähe zu den Opfern durch die Täter:innen (z.B. Auflauern nach der Arbeit)[4] oder die unerwünschte Kontaktaufnahme über verschiedene Kommunikationswege (z.B. Telefonanrufe, Briefe),[5] welche alleinstehend noch an aufdringliche Werbeversuche erinnern und in ihrer Summe Stalking ausmachen. Auf der anderen Seite schließt der Gesetzgeber auch Handlungen ein, die eindeutig die Intention haben Opfer zu schädigen. Dazu zählen zum einen der Missbrauch der Daten der Opfer und zum anderen Bedrohungen der Opfer selbst oder Angehöriger und tatsächliche Angriffe, die die Gesundheit der Opfer schädigen.

Definitionen im klinischen Kontext zielen darauf ab, ein grundlegendes Verständnis von Stalkingverhalten zu geben. Danach ist Stalking ein abnormales Verhaltensmuster, dass sich gegen eine bestimmte Person richtet. Es zeichnet sich durch die wiederholte Belästigung und Kontaktaufnahme gegen den Willen einer Person aus, welche sich über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen erstreckt.[6] Dabei ist nicht die Intention der Täter:innen entscheidend, sondern ob die Opfer diese Verhaltensweisen als angsteinflößend erlebt.[7] Während also der Typ aus der Uni nicht mitbekommt, dass sein Instagram-Profil unter die Lupe genommen wird, erlebt Allie das beklemmende Gefühl weiterhin bedrängt zu werden, nachdem sie bereits mehrfach abgelehnt hat.

Eine besondere Form des Stalkings hat sich im Rahmen der Digitalisierung entwickelt. Erfolgt die Nachstellung mithilfe elektronischer Kommunikationsmittel wird sie als Cyberstalking bezeichnet.[8] Dazu gehört auch die Nutzung internetbasierter Aktivitäten im weiteren Sinne. Beispielsweise erhalten die Opfer von Cyberstalking wiederholt unerwünschte E-Mails. Sie haben aber auch mit der Veröffentlichung privater Informationen, welche Schaden anrichten oder als peinlich empfunden werden, und Identitätsdiebstahl zu kämpfen.[9]

Das Fallbeispiel soll Euch einen Eindruck vermitteln, wie Stalking in einem konkreten Fall aussehen kann und welche (juristischen) Schwierigkeiten das Opfer zu überwinden hat.[10]

 

Zahlen, Daten, Fakten

[11]

Stalking ist keine Seltenheit. 2019 wurden 20.204 Fälle von Stalking in Deutschland registriert.[12] Das Risiko einmal im Leben mit Stalking in Berührung zu geraten liegt bei 15 %, jedoch variiert es zwischen verschiedenen Personengruppen. Frauen sind mit 64,6 % deutlich häufiger betroffen als Männer. Entgegen der populären Annahme Stalker:innen seien meist Fremde sind 39,6 % der Täter:innen Ex-Partner:innen oder frühere Verabredungen. Als zweithäufigste Gruppe werden Nachbar:innen identifiziert, gefolgt von Fremden und Ehepartner:innen und schließlich zuletzt von Familienmitgliedern. Ebenso haben Personen, die allein in einem Haushalt leben, ein höheres Risiko gestalkt zu werden. Über alle Gruppen hinweg haben Täter:innen meist das andere Geschlecht als die Opfer. In 80,8 % der Fälle dauert das Stalking weniger als ein Jahr an; durchschnittlich sind es vier bis sechs Monate.[13]

Hinter der Fassade: Was hinter dem Verhalten von Stalker:innen steckt

Nun tut sich die Frage auf, warum Noah auf diese eindringliche Vorgehensweise zurückgreift, um Allie eine Einwilligung abzuringen. Was steckt hinter den Verhaltensweisen von Stalker:innen? Das zu verstehen, ist wichtig, um Risikofaktoren zu identifizieren, das Rückfallrisiko zu senken und angemessene Behandlungsangebote zu etablieren. Dadurch kann einerseits der Schutz der Opfer verbessert werden und andererseits den Stalker:innen geholfen werden, welche meist selbst durch das Stalking eingeschränkt sind.[14]

Die verschiedenen Arten von Stalker:innen können nach der primären Motivation des Stalkings unterschieden werden. So kann hinter dem Verhalten der Täter:innen einerseits der Versuch stecken, Zuneigung auszudrücken oder andererseits die Absicht Opfern zu schaden und dafür zu sorgen, dass sie sich schlecht fühlen. Dabei können anfangs noch romantische Intentionen vorliegen, welche erst bei Ablehnung in Ärger und Feindseligkeit umschlagen. Es kann jedoch auch von Anfang an das Bestreben der Täter:innen sein, ihre Opfer zu schikanieren und einzuschüchtern. Es kommt also häufig vor, dass die Emotionen der Täter:innen ambivalent sind. Aber auch die vorausgehende Beziehung zwischen Stalker:in und Opfer kann zur Klassifikation herangezogen werden.[15]

Durch die Verknüpfung dieser beiden Ansätze ergeben sich verschiedene Stalkingtypen, deren Stalkingverhalten unterschiedliche Funktionen erfüllt: Haben Täter:in und Opfer zuvor eine Beziehung zueinander gepflegt, gibt es jene, die das Ziel verfolgen ihre Ex-Partner:innen zurückzugewinnen oder sich an ihnen zu rächen. Eifersucht und Besitz als dominierende Charakteristiken der Zurückgewiesenen zeigen sich häufig sogar schon während der Beziehung dadurch, dass die Partner:innen häufig Vorwürfe von Untreue machen oder ihre Partner:innen kontrollieren. Und es gibt jene Stalker:innen, die ihren Opfern meist im beruflichen Kontext erstmals begegnen und diese als Repräsentanten einer abweisenden Welt betrachten. Sie sehen sich selbst als das eigentliche Opfer, das sich nur gegen stärkere Unterdrücker wehrt. Deshalb halten sie ihre Handlungen für gerechtfertigt und streben ebenso nach Vergeltung. Typisch für diese Gruppen sind dementsprechend Drohungen, gewalttätige Übergriffe sowie Handlungen, die das Opfer gezielt verängstigen sollen.[16] Wenn Täter:innen und Opfer weitestgehend fremde Personen sind, steckt meist ein Mangel an Liebe und Einsamkeit hinter dem Stalkingverhalten. Die Stalker:innen versuchen eine Intimbeziehung oder Freundschaft zu Fremden aufzubauen. Teils werden mit phantasierten Beziehungen reale Kontakte ersetzt, wobei sie nicht müde werden, auf Erfüllung zu hoffen und jede Zurückweisung im Sinne einer versteckten Liebesbotschaft zu deuten. Teils stecken soziale Schwierigkeiten dahinter, wobei sich die Täter:innen immer wieder neue Liebesobjekte suchen mit dem Gedanken, dass sie ein Recht auf Erwiderung hätten. Die Annäherungsversuche dieser Gruppen wirken zumeist sehr derb und aufdringlich.[17]

Symptome psychischer Probleme sind unter Stalker:innen weit verbreitet. Verurteilte Stalkingtäter:innen erfüllen zu 72,3 % die Diagnose für eine psychische Störung. Darunter eine große Zahl (46,0 %) mit einer Substanzstörung, 10,2 % mit einer psychotischen Störung und 49,6 % leiden unter einer Persönlichkeitsstörung. Bei einigen Täter:innen liegen mehrere Störungen gleichzeitig vor. Es gibt keine Unterschiede bezüglich der Auswahl ihrer Opfer oder Art der stalkingbezogenen Verhaltensweisen zwischen Stalker:innen mit und ohne klinische Diagnose. Insgesamt sind psychische Erkrankungen unter Stalker:innen in etwa so verbreitet wie in anderen Täter:innengruppen, jedoch treten sie häufiger als in der allgemeinen Bevölkerung auf.[18]

Die langen Schatten des Stalkings: Auswirkungen von Stalking auf die Opfer

Waghalsige Aktionen wie die von Noah in Wie ein einziger Tag stoßen in der Realität seitens der angebeteten Person selten auf Begeisterung. Ein Happy End ist fernab dessen, was die Opfer von Stalking erleben. Zwar mögen einzelne Stalkinghandlungen nicht den Anschein machen, dass sie gefährlich sind. In ihrer Summe jedoch ziehen sowohl die beharrlichen Annäherungsversuche als auch die offensichtlich schädigenden Verhaltensweisen vielseitige und schwerwiegende Folgen auf materieller, physischer und psychischer Ebene nach sich.

Unter materielle Schäden fällt zum Beispiel die Beschädigung von Eigentum oder das Bestellen von Konsumgütern, welche den Opfern ohne deren Einverständnis in Rechnung gestellt werden. Auch sehen sich die Opfer infolge der andauernden Belästigung zu nachhaltigen Veränderungen ihres Lebensstils gezwungen. Die Konsequenzen reichen vom Wechseln der Telefonnummer bis hin zum Verlust oder der Aufgabe des Arbeitsplatzes, Abbruch des Schulbesuchs oder Änderung des Wohnortes.[19] Für einen Teil der Opfer hat Stalking auch physische Folgen. Die Angaben über tatsächliche körperliche Angriffe liegen zwischen 34 %[20] und 56 %[21], jedoch sind schwere Fälle von Gewalt selten.[22] Etwa die Hälfte der Verfolger:innen bedroht die Angebeteten; manche gehen dabei sogar soweit Morddrohungen auszusprechen.[23] Gewalt wird dann besonders häufig verübt, wenn zuvor eine intime Beziehung zwischen Täter:innen und Opfern bestanden hatte, die Täter:innen unter Substanzmissbrauch leiden oder eine Gewaltgeschichte vorzuweisen haben.[24] Daneben haben die Opfer mit einer psychosozialen Belastung zu kämpfen. Um den Stalker:innen wenig Konfrontationspunkte zu geben, vermeiden viele Betroffene öffentliche Orte und fahren ihre sozialen Aktivitäten zurück, was den Verlust von Freundschaften bedeuten kann. Zugleich müssen sie sich um seelische Unterstützung und die Verfolgung juristischer Maßnahmen bemühen. Insgesamt erfordert das Stalking einen großen Aufwand für die Opfer.[25]

Wenn man das Spektrum an Belastungen betrachtet, ist es nicht erstaunlich, dass diese nicht spurlos an der Psyche der Betroffenen vorbeigehen. Die Gefühlslage von Stalkingopfern lässt sich mit Kontrollverlust und dem extremen Anstieg von Misstrauen gegenüber anderen Personen beschreiben.[26] Schlafstörungen, Appetitstörungen, Müdigkeit, Schwächegefühl und chronische Ängste gehören zu den negativen psychischen Auswirkungen.[27] Opfer von Stalking leiden signifikant häufiger an psychischen Störungen als Personen ohne Stalkingerfahrung. Dies gilt auch dann noch, wenn diese aktuell nicht mehr von Stalking betroffen sind. Häufig treten Depressionen und Panikstörungen auf.[28] Viele Opfer berichten zudem über posttraumatische Belastungssymptome - sie werden von Flashbacks geplagt und leben in ständiger Wachsamkeit.[29] Etwa ein Drittel der Betroffenen berichtet über Suizidgedanken.[30]

Es wird jedoch nicht jede:r gleichermaßen durch Stalking beeinträchtigt. Zum einen können Merkmale des Stalkings Unterschiede in der mentalen Gesundheit erklären: Lässt die Häufigkeit der Stalkinghandlungen nach, haben die Opfer weniger psychische Probleme.[31] Wird den Opfern hingegen Gewalt angedroht, sind die psychosozialen Auswirkungen negativer.[32] Zum anderen müssen personenbezogene Faktoren betrachtet werden: Personen, die ungeeignete Bewältigungsstrategien anwenden, leiden stärker unter Stalking. Ungünstig wäre dabei beispielsweise ein vermeidender Bewältigungsstil, bei dem das Opfer versucht sich abzulenken und Fluchtverhalten zeigt.[33][34] Aber auch anhaltendes Grübeln über die Situation und Selbstbeschuldigungen schlagen sich in Form von Depressionen, Ängsten und posttraumatischen Belastungssymptomen auf das Wohlbefinden nieder.[35]

Im Rahmen von Hilfsangeboten und Therapien ist es dementsprechend sinnvoll, die Bewältigungsstrategien der Opfer zu verbessern. Denn hierbei handelt es sich um veränderbare Risikofaktoren, welche helfen können, die allgemeine Anfälligkeit für psychische Probleme zu verringern. Außerdem scheint sich aufdringliches Verhalten erst dann erheblich negativ auf die Psyche auszuwirken, wenn dies länger als zwei Wochen andauert.[36] Dabei leistet die geeignete Gesetzgebung einen entscheidenden Beitrag zum Opferschutz, indem sie der Polizei ein frühes Einschreiten erlaubt.[37]

 

 

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Über die Wahrnehmung von Stalking und ihre Bedeutung

Nun ist Hollywood die eine Sache. Nicht alles, was uns dort erzählt wird, können wir glauben. Manchmal ist dies offensichtlicher, manchmal weniger. Wenn Harry Potter auf einem Besen durch die Lüfte reitet, dann hat das wohl keine Auswirkungen auf unser Weltbild. Jedoch konnte bereits gezeigt werden, dass Filme unsere Urteilsbildung und Verhaltensweisen beeinflussen können.[38] Wie wirkt sich also die Darstellung solch allgegenwärtiger Themen wie Liebe und Partnerschaft in den Medien auf unsere Wahrnehmung aus? Wie formt sich unser Bild von Stalking, wenn wir die Noahs der Filmindustrie beobachten, deren grobe und zugleich romantisch anmutende Eroberungsversuche von Erfolg gekrönt sind?

Je nach Filmgenre werden unterschiedliche Emotionen zu Stalking vermittelt. In Romantikkomödien wird Stalking beispielsweise häufig harmlos und humorvoll präsentiert, während Dramen oder Thriller die brutalen Facetten und den furchteinflößenden Charakter von Stalking hervorheben. Insbesondere, wenn solche Filme als realistisch empfunden werden, wirken sie sich auf unsere Wahrnehmung von Stalking aus. So erhöht das Anschauen von romantischen Filmen kurzfristig die Unterstützung von Stalkingmythen, wohingegen nach dem Betrachten einer beängstigenden Inszenierung von Stalking die Zustimmung zu Mythen abnimmt.[39] Bei Stalkingmythen handelt es sich um irrtümliche Vorstellungen über Stalking. Sie umfassen die Annahmen, dass Stalking nicht ernst zu nehmen sei (z.B. „Stalker sind nervig, aber sie sind keine Kriminellen.“), dass Stalking romantisch sei (z.B. „Einem Mann sollte es erlaubt sein, einer Frau bis zu einem gewissen Grad nachzustellen, wenn dies Teil einer Romanze ist.“) und dass die Opfer eine Mitschuld trügen (z.B. „Eine Frau wird eher gestalkt, wenn sie nicht eindeutig Nein sagen kann.“).[40] Auf der einen Seite können Medien also einen prosozialen Effekt haben und Stalkingmythen abschwächen, insbesondere wenn sie Verhaltensmuster zeigen, die dem Opfer eindeutig schaden sollen. Auf der anderen Seite fördern sie falsche Annahmen, wenn sie Stalking als harmlose und normkonforme Verhaltensweisen darstellen, die maximal als missglückte grobe Annäherungsversuche verstanden werden können.

Nachdem wir uns mit der Frage beschäftigt haben, wie Stalkingmythen durch Filme beeinflusst werden, werfen wir nun einen Blick auf die Verbreitung von Mythen zu Stalking und deren Auswirkung auf unser Verhalten. Studien haben ergeben, dass Männer Stalkingmythen mehr unterstützen als Frauen.[41][42] Sie stufen Stalkinghandlungen häufiger als romantisch und normativ ein, um eine Beziehung zu retten oder die Zuneigung einer Frau zu gewinnen. Darüber hinaus wurde im Speziellen die Einstellung von Fachkräften, welche mit Stalkingtäter:innen sowie -opfern zusammenarbeiten untersucht. Polizist:innen sowie Zivilpersonen sehen Stalkingverhaltensweisen teilweise als missverstandene romantische Annäherungsversuche an. Identifizieren Polizist:innen jedoch ein Verhalten als Stalking, nehmen sie dieses ernster als Zivilpersonen[43] und erkennen ihre berufliche Verantwortung an.[44] Außerdem schätzen Polizist:innen, die auf häusliche Gewalt spezialisiert sind, gegenüber normal ausgebildeten Polizist:innen Stalking eher als Gefahr für die Opfer ein und halten ein Eingreifen der Polizei für erforderlich.[45] Seitens der Opfer zeichnet sich ein ähnliches Verhaltensmuster ab: Beurteilen diese Stalkinghandlungen als Verbrechen, neigen sie eher dazu, sich an die Polizei zu wenden.[46] Zusätzlich spielen die Reaktion und die Ausprägung von Stereotypen in der Umwelt der Opfer eine Rolle. Wird den Opfern eine Mitschuld gegeben,[47] wodurch die Täter:innen entlastet werden,[48] kann dies eine zusätzliche psychische Belastung darstellen. Eine häufige Konfrontation mit Stalking sowie ein umfangreiches Wissen können also dazu beitragen, die Problematik von Stalking besser zu erkennen, was für eine angemessene Unterstützung der Opfer von entscheidender Bedeutung ist. Annahmen über Stalking entscheiden jedoch nicht nur über die Ableitung von Handlungsmaßnahmen seitens der Polizei oder die Suche nach Hilfe seitens der Opfer, sondern sie spielen auch für das Erfahren und Ausüben von Stalking eine Rolle. Collgestudent:innen, die selbst schon gestalkt hatten, gaben eine größere Zustimmung zu Stalkingmythen an. Überdies wurden Frauen, die Mythen zum Thema Stalking mehr unterstützten, auch häufiger Opfer.[49]

Back to reality: Stalking – Ein unterschätztes Verbrechen

Wenn wir zurück an Noah und Allie auf dem Riesenrad denken, können wir unsere rosarote Brille abnehmen. Stellen wir uns vor, diese Szene passiere im wahren Leben: Wer wäre davon begeistert, wenn ein ungebetener Verehrer droht sich das Leben zu nehmen, nur weil man nicht für ein Kennenlernen bereit ist? Vermutlich die wenigsten. Vielleicht müssen wir uns eingestehen, dass die romantischen Emotionen, die uns hier präsentiert werden und die wir empfinden nicht so angemessen sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Nicht jedes Mittel ist gerechtfertigt und schon gar nicht erfolgreich, um eine:n Angebetete:n für sich zu gewinnen. Stalking als gut gemeinte Liebesbekundungen zu verstehen, über die sich ein Opfer womöglich noch freut, ist fernab der Realität. Stattdessen gilt es klar anzuerkennen, unter welchen psychischen Belastungen die Opfer leiden und welche Absichten der Täter:innen dahinterstehen.

Wir haben gelernt, dass Stalkingopfer nur zu gut darüber berichten können, wie erschreckend, störend und unangenehm es ist, mit Liebesbriefen überhäuft zu werden, die man nicht lesen will, oder Blumen geschenkt zu bekommen, die man direkt wieder in den Müll werfen möchte. Denn als Liebesbeweise getarnt, steckt hinter dem Terror oft eine andere Motivation. Deutlicher wird dies, wenn wir die Bandbreite an möglichen Stalkinghandlungen betrachten. Opfer zu verfolgen, ihnen aufzulauern und sie körperlich anzugreifen, verleihen den Täter:innen unter Umständen ein Gefühl von Macht und Kontrolle, oder dient der Befriedigung von Rachlust. Da können die Opfer noch so deutlich Nein sagen, die Stalker:innen bleiben hartnäckig. Für die Opfer zieht diese Tortur dann oft schwerwiegende Folgen nach sich. Psychische Störungen und Veränderungen des Lebensstils sind häufig das Ergebnis.

Um Stalking entgegen zu treten gilt es also die Ernsthaftigkeit der Lage zu erkennen und sowohl für Opfer als auch Täter:innen entsprechende Hilfsangebote zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört auch sich von den romantisch verklärten Liebesgeschichten Hollywoods distanzieren zu können, wenn die Realität dies erfordert.

 

Rechtspsychologie zum Mitmachen: Talking about Stalking

Wie wir beim Lesen gelernt haben, ist es wichtig Stalking zu erkennen, ernst zu nehmen und sich Hilfe zu suchen. Deswegen wollen wir Euch anregen, einmal über Eure persönlichen Erfahrungen nachzudenken, mit einer vertrauten Person zu sprechen oder selbst Ansprechpartner:innen zu sein. Möglicherweise könnt Ihr mit Euren Erfahrungen oder Eurem Wissen jemandem helfen und selbst etwas lernen. Die folgenden Fragen, können Euch dabei helfen ins Gespräch zu kommen:

Fragen zum Thema Stalking - Gesprächsleitfaden

 

Referenzen

[1] McKeon, B., McEwan, T. E. & Luebbers, S. (2015). “It's Not Really Stalking If You Know the Person”: Measuring Community Attitudes That Normalize, Justify and Minimise Stalking. Psychiatry, Psychology and Law, 22(2), 291-306.

Let’s start: Was Stalking wirklich ist

[2] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

[3] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

[4] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). Stalking: a problem behaviour. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 1-10). Cambridge: Cambridge University Press.

[5] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). Stalking: a problem behaviour. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 1-10). Cambridge: Cambridge University Press.

[6] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). Stalking: a problem behaviour. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 1-10). Cambridge: Cambridge University Press.

[7] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

[8] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

[9] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). Cyberstalking. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 152-156). Cambridge: Cambridge University Press.

[10] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

Zahlen, Daten, Fakten

[11] Hellmann, D. F. & Kliem, S. (2015). The prevalence of stalking: Current data from a German victim survey. European Journal of Criminology, 12(6), 700-718.

[12] Bundeskriminalamt (Hrsg.) (2019). PKS Jahrbuch 2019, Band 2 Opfer, Version 1.0. Wiesbaden: Bundeskriminalamt.

[13] Hellmann, D. F. & Kliem, S. (2015). The prevalence of stalking: Current data from a German victim survey. European Journal of Criminology, 12(6), 700-718.

Hinter der Fassade: Was hinter dem Verhalten von Stalker:innen steckt

[14] Nijdam-Jones. A., Rosenfeld, B., Gerbrandij, J., Quick, E. & Galietta, M. (2018). Psychopathology of Stalking Offenders: Examining the Clinical, Demographic, and Stalking Characteristics of a Community-Based Sample. Criminal Justice and Behavior, 45(5), 712-731.

[15] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). Stalking typologies and classifications. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 58-68). Cambridge: Cambridge University Press.

[16] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). The rejected stalker and the resentful stalker. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 69-81). Cambridge: Cambridge University Press.

[17] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). The intimacy seeker and the incompetent suitor. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 82-91). Cambridge: Cambridge University Press.

[18] Nijdam-Jones. A., Rosenfeld, B., Gerbrandij, J., Quick, E. & Galietta, M. (2018). Psychopathology of Stalking Offenders: Examining the Clinical, Demographic, and Stalking Characteristics of a Community-Based Sample. Criminal Justice and Behavior, 45(5), 712-731.

Die langen Schatten des Stalkings: Auswirkungen von Stalking auf die Opfer

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[20] Pathé, M. & Mullen, P. E. (1997). The impact of stalkers on their victims. The British Journal of Psychiatry: The Journal of Mental Science, 170(1), 12-17.

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[22] Rosenfeld, B. (2004). Violence Risk Factors in Stalking and Obsessional Harassment. Criminal Justice and Behavior, 31(1), 9-36.

[23] Blaauw, E., Winkel, F. W., Arensman, E., Sheridan, L. & Freeve, A. (2016). The Toll of Stalking. Journal of Interpersonal Violence, 17(1), 50-63.

[24] Rosenfeld, B. (2004). Violence Risk Factors in Stalking and Obsessional Harassment. Criminal Justice and Behavior, 31(1), 9-36.

[25] Pathé, M. & Mullen, P. E. (1997). The impact of stalkers on their victims. The British Journal of Psychiatry: The Journal of Mental Science, 170(1), 12-17.

[26] Mullen, P. E., Pathé, M., & Purcell, R. (2008). The victims of stalkers. In P. E. Mullen, M. Pathé, & R. Purcell (Hrsg.), Stalkers and their Victims (S. 35-57). Cambridge: Cambridge University Press.

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[30] Blaauw, E., Winkel, F. W., Arensman, E., Sheridan, L. & Freeve, A. (2016). The Toll of Stalking. Journal of Interpersonal Violence, 17(1), 50-63.

[31] Blaauw, E., Winkel, F. W., Arensman, E., Sheridan, L. & Freeve, A. (2016). The Toll of Stalking. Journal of Interpersonal Violence, 17(1), 50-63.

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[37] Pathé, M. (2009). What is stalking? In M. Pathé (Hrsg.), Surviving Stalking (S. 7-14). Cambridge: Cambridge University Press.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Über die Wahrnehmung von Stalking und ihre Bedeutung

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[40] McKeon, B., McEwan, T. E. & Luebbers, S. (2015). “It's Not Really Stalking If You Know the Person”: Measuring Community Attitudes That Normalize, Justify and Minimise Stalking. Psychiatry, Psychology and Law, 22(2), 291-306.

[41] McKeon, B., McEwan, T. E. & Luebbers, S. (2015). “It's Not Really Stalking If You Know the Person”: Measuring Community Attitudes That Normalize, Justify and Minimise Stalking. Psychiatry, Psychology and Law, 22(2), 291-306.

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[44] Kamphuis, J. H., Galeazzi, G. M., De Fazio, L., Emmelkamp, P. M. G., Farnham, F., Groenen, A., James, D., Vervaeke, G. (2005). Stalking: perceptions and attitudes amongst helping professions. An EU cross-national comparison. Clinical Psychology & Psychotherapy, 12(3), 215-225.

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Mythos: Augenzeug:innen sind bei Personenidentifizierungen unzuverlässig!

Projektarbeit 2020 I Geschätzte Lesezeit: 17 min

 

https://www.youtube.com/watch?v=YCcq2BkxiaE&feature=youtu.be

 

Zugegeben, in der Realität würde die Verteidigung in einem Strafprozess wohl kaum ein solches Vorgehen wählen wie der Protagonist Saul Goodman in dieser Szene der US-amerikanischen Dramaserie Better Call Saul. Gleichwohl hat der fiktive Strafverteidiger einen guten Punkt: Unser Gedächtnis ist fehleranfällig. Saul Goodman macht sich dies als Strategie zunutze, indem er seinen Mandanten mit einer ähnlich aussehenden Person ersetzt. Die Annahme Goodmans, der Augenzeuge sei unzuverlässig, wird bestätigt als dieser den falschen Beschuldigten als Täter identifiziert. Auf diese Weise macht der Strafverteidiger alle Anwesenden im Gerichtssaal und schließlich auch uns Zuschauer:innen darauf aufmerksam, dass wir Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen womöglich mehr Bedeutsamkeit zumessen als sie verdienen. Ist da womöglich was dran?

Der Augenzeug:innenbeweis ist in der gerichtlichen Praxis ebenso häufig wie fehlerbelastet: Fehlerhafte Zeug:innenaussagen haben in einer Vielzahl von Fällen wesentlich zur Verurteilung unschuldiger Personen beigetragen. Sie werden mitunter als die häufigste Ursache für Justizirrtümer angesehen.[1] Für das Rechtssystem stellt eine fälschliche Verurteilung einen Fehlschlag in zweifacher Hinsicht dar: So wird eine unschuldige Person nicht nur bestraft, in aller Regel lässt sie auch eine schuldige straffrei ausgehen. Der Fehleranfälligkeit von Augenzeug:innenberichten wird sich in Film und Fernsehen gern bedient, wenn aufsehenerregende Justizirrtümer behandelt werden. Eine besondere Spannung kommt dann noch hinzu, wenn szenisch dargestellt wird, wie Augenzeug:innen den Täter:innen gegenübertreten und diese auch als solche identifizieren. Tatsächlich haben Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen auch eine besonders überzeugende Wirkung.[2] Dass in unserer Szene aus Better Call Saul alle Anwesenden in der Gerichtsverhandlung auf die Falschidentifizierung überrascht reagieren, ist folglich nicht verwunderlich. Zugleich vermitteln uns solche Szenen aber auch den Mythos, dass Augenzeug:innen bei Personenidentifizierungen unzuverlässig sind. Um dem hinreichend auf den Grund zu gehen, werden wir uns in diesem Beitrag damit beschäftigen wie unser Gedächtnis für andere Gesichter zu unterschiedlichen Zeitpunkten funktioniert; wie polizeiliche Gegenüberstellungen durchgeführt werden; ob Personeneigenschaften von Augenzeug:innen eine Rolle spielen; wie suggestibel wir als Augenzeug:innen sind und wie wir mit der Personenidentifizierung als Beweismittel umgehen müssen. Schließlich habt Ihr auch die Gelegenheit Euer Augenzeug:innengedächtnis in einem Gegenüberstellungsexperiment auf die Probe zu stellen.

Plötzlich Augenzeug:in – wie unser Gedächtnis für Gesichter funktioniert

Wenn wir verstehen wollen, wie es zu Falschidentifizierungen durch Zeug:innen - wie in der dargestellten Gerichts-Szene aus Better Call Saul - kommen kann, müssen wir die Zeit zurückdrehen: Den Anfang machen wir mit dem Moment, in dem jemand Augenzeug:in einer Straftat wird. In einer solchen Wahrnehmungsphase verwenden Zeug:innen automatisch bestimmte Stereotype oder auch Erwartungen, um ein beobachtetes Gesicht verarbeiten zu können.[3] Wie gut diese Verarbeitung gelingt, hängt dabei von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab, wie beispielsweise den Lichtverhältnissen, der Entfernung der Zeug:innen, dem Beobachtungswinkel auf das entsprechende Gesicht oder dem von Zeug:innen empfundenen Stress, beispielsweise wegen einer im Tatgeschehen involvierten Waffe[4].[5] Besonders relevant ist auch die Dauer der Beobachtung, denn eine längere Beobachtungsdauer kann sich begünstigend auf das spätere Wiedererkennen auswirken.[6][7][8] Meist dauert die kritische Situation aber nur wenige Sekunden an, wodurch Augenzeug:innen vor der großen Herausforderung stehen, das wahrgenommene Gesicht auch im Gedächtnis zu behalten. Entsprechend kann eine längere Behaltensphase, also die Dauer zwischen der Wahrnehmung und dem Abrufen eines Gesichts, ein schlechteres Wiedererkennen bedeuten.[9] Wir stellen also fest, dass Zeit einen wichtigen Faktor darstellt und nehmen uns dazu mal Zahlen zu Hilfe: In einer Untersuchung[10] betrug die Beobachtungsdauer 15 Sekunden. Nach dem Ende dieser Wahrnehmungsphase wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Behaltensphase getestet, wie gut das Wiedererkennen gelingt: Unmittelbar nach der Beobachtung lag die Trefferrate nur noch bei 70 %. Eine halbe Stunde später betrug sie 65 %, zwei Stunden später 54 % und nach einem Tag 55 %. Umgekehrt wurde auch untersucht, wie häufig falsches Wiedererkennen auftrat, also ein Gesicht vermeintlich wiedererkannt wurde, obwohl ein anderes beobachtet wurde: Hier lag die Rate unmittelbar nach der Beobachtung bei 18 %, stieg nach einer halben Stunde auf 44 %, nach zwei Stunden auf 58 % und betrug nach einem Tag 53 %. Im Vergleich mit den Raten korrekter Wiedererkennungen ist also der Einfluss der Behaltensphase auf die Anzahl fälschlicher Wiedererkennungen etwas geringer.[11]

Fassen wir das Ganze mal zusammen: Bereits in der Wahrnehmungssituation gibt es viele Faktoren, die beeinflussen, wie gut wir ein Gesicht verarbeiten können. Obwohl sich eine längere Beobachtungsdauer begünstigend auf ein späteres Wiedererkennen auswirken kann, ist aber auch das Behalten entscheidend durch seine Dauer geprägt: Mit zunehmend längerem Behaltensintervall nimmt die Gedächtnisleistung für Gesichter ab und die Anzahl fälschlich wiedererkannter Gesichter nimmt zu.[12] Wir sind tatsächlich schon unmittelbar nach der Beobachtung nicht mehr besonders gut darin, ein soeben wahrgenommenes Gesicht korrekt abzurufen.[13] Die Behaltensphase ist darüber hinaus anfällig für die Verarbeitung nachträglicher Informationen.[14] Das wird später noch wichtig für uns werden.

Augenzeug:innen im polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren

Für die polizeiliche Ermittlungsarbeit können Aussagen von Augenzeug:innen ungemein wichtig sein. Die routinemäßige Ermittlungshandlung kann beinhalten, dass Augenzeug:innen die beobachtete Zielperson beschreiben und die Polizei auf dieser Basis die polizeiliche Lichtbildkartei zum Auffinden der tatverdächtigen Person sichtet.[15] Dass eine detaillierte Personenbeschreibung automatisch zu einer verlässlicheren Identifizierung führt, ist, entgegen juristischer Annahmen,[16] übrigens nicht empirisch gestützt.[17][18] Um einen möglichst hohen Beweiswert der Augenzeug:innenaussage erzielen zu können, werden nicht nur Lichtbildvorlagen von Tatverdächtigen für eine Gegenüberstellung vorbereitet, sondern auch solche, auf denen ähnlich aussehende Vergleichspersonen - sogenannte Distraktoren - abgebildet sind. Bei einer solchen Konstellation spricht man von einer Wahlgegenüberstellung, da hier Augenzeug:innen zwischen tatverdächtigen Personen und Distraktoren wählen müssen. Wichtig ist in der Personenzusammenstellung, dass diese sich untereinander in ihrem äußeren Erscheinungsbild ähnlich sind. Dadurch wird die Aufgabe des Wiedererkennens zwar schwerer im Lichte viele sich ähnelnder Personen, der Beweiswert dafür jedoch deutlich erhöht: Die Gegenüberstellungsperson wird im besten Fall tatsächlich wiedererkannt und nicht mehr oder weniger zufällig erinnert.[19]

Eigene Darstellung in Anlehnung an: [20]

Polizeiliche Gegenüberstellungsverfahren unterscheiden sich in ihrer Durchführung in einigen Punkten. Dabei wirken sich manche Vorgehensweisen begünstigender auf die Identifizierungsleistung durch Augenzeug:innen aus als andere. Hinsichtlich der Präsentation gibt es zwei Möglichkeiten für eine Gegenüberstellung: Eine simultane Gegenüberstellung der Tatverdächtigen und Distraktoren kann dazu führen, dass Augenzeug:innen zwischen den Personen vergleichen, was zu einer relativen Wahl für die vermeintlich ähnlichste Person führt, anstatt eine einzelne Person mit der aus ihrer Erinnerung abzugleichen.[21] Wird die Wahlgegenüberstellung sequenziell, also aufeinanderfolgend, durchgeführt, kann für jede Person einzeln eine absolute Entscheidung erfolgen und ist folglich weniger anfällig für mögliche Falschidentifizierungen.[22] Zwar führt die sequenzielle Durchführung tatsächlich zu einer geringeren Anzahl von Falschidentifizierungen, wenn sich der Täter nicht in der Gegenüberstellung befindet, allerdings ist auch die Anzahl der korrekten Identifizierungen etwas geringer als bei simultaner Vorgehensweise.[23] Alternativ zu den Lichtbildvorlagen kann auch eine Video- oder gar Live-Gegenüberstellung, was den ein oder anderen an prominente CSI-Szenen erinnern mag, durchgeführt werden. Diese drei Präsentationsmedien unterscheiden sich zwar hinsichtlich der Identifizierungsleistung nicht,[24] allerdings sind Lichtbildvorlagen wohl am ökonomischsten und erleichtern auch die Konstruktion einer fairen Gegenüberstellung tatverdächtiger Personen.[25]

Zusammenfassend ist eine polizeiliche Gegenüberstellung also dann optimal durchgeführt, wenn die Personenzusammenstellung geeignete Distraktoren beinhaltet, bestenfalls anhand von Lichtbildern erfolgt und die Personen im Sinne einer Vermeidung möglicher Falschidentifizierungen sequenziell durchgeführt wird.

Eigenschaften von Augenzeug:innen und ihr Einfluss auf die Identifizierungsleistung

Nun fragt Ihr Euch sicherlich, ob manche Augenzeug:innen besser Personen identifizieren können als andere. Seit vielen Jahrzehnten werden in der Forschungsliteratur weitestgehend ähnliche Befunde zu gängigen personalen Faktoren berichtet, die wir uns etwas genauer ansehen wollen: Das Alter spielt bei erwachsenen Augenzeug:innen keine nennenswerte Rolle - ob Ihr nun in Euren 20ern oder 50ern seid, macht Euch also nicht zu besseren oder schlechteren Augenzeug:innen. Bei Augenzeug:innen höheren Alters hingegen fand man zwar vereinzelt vergleichbar schlechtere Leistungen,[26] allerdings verbessert sich deren Leistung wieder, wenn sie eine Person identifizieren, die ein ähnliches Alter aufweist, was man auch als own-age effect bezeichnet.[27] Kinder weisen hingegen eine hohe Anzahl von Falschidentifizierungen auf,[28] mit zunehmendem Alter steigt ihre Leistung jedoch.[29] Welchem Geschlecht sich Augenzeug:innen zugehörig fühlen, hat kaum einen bedeutsamen Einfluss auf die Identifizierungsleistung. Ein Geschlecht ist also nicht per se besser als ein anderes – so der allgemeine Konsens zum heutigen Forschungsstand. Die Treffsicherheit ist aber leicht erhöht, wenn Augenzeug:innen das gleiche Geschlecht aufweisen wie die zu identifizierende Person.[30] Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn Ihr als Augenzeug:innen einer anderen Ethnie zugehörig seid als die zu identifizierende Person: Der sogenannte cross-race effect beschreibt das schlechtere Wiedererkennen von Personen anderer ethnischer Gruppen. Dieser Effekt, der sich in einer breit angelegten Metaanalyse nicht nur als groß, sondern auch vergleichbar zwischen den untersuchten Ethnien erwies,[31] hält sich seit vielen Jahren äußerst robust in der Forschung. Gleichwohl die Befunde als äußerst verlässlich gelten, existieren bis heute umstrittene Erklärungsansätze für den cross-race effect. Ein Ansatz, der verschiedene Erklärungen zusammenfasst, geht beispielweise davon aus, dass Gesichter der eigenen Ethnie eher ganzheitlich verarbeitet werden, während man Gesichter anderer Ethnien zunächst zu kategorisieren versucht, bevor sie dann ganzheitlich verarbeitet werden können.[32]

[33][34]

Zusammenfassend sind also für sich allein genommen Personeneigenschaften von erwachsenen Augenzeug:innen nicht sonderlich bedeutsam für ihre Identifizierungsleistung. Stellenweise ist aber unter praktischen Gesichtspunkten eine gemeinsame Betrachtung von Augenzeug:innen und zu identifizierenden Personen, vor allem wenn es um die jeweiligen Ethnienzugehörigkeiten geht, begründet und es sollte entsprechend skeptisch mit getroffenen Aussagen umgegangen werden.

Vorsicht: Falschinformation! Was das Augenzeug:innengedächtnis suggestibel macht

Wir erinnern uns, dass die empfindliche Behaltensphase für Augenzeug:innen noch wichtig für uns werden sollte: Werden zu einem Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat (zum Beispiel eine beobachtete Straftat), nachträgliche, falsche Informationen präsentiert (zum Beispiel andere Tatverdächtige), kann dies zu einer Veränderung der Erinnerungsinhalte an das Ereignis führen. Dieses Phänomen wird als Falschinformationseffekt bezeichnet.[35] Dieser Effekt wird - und dieser Begriff sagt Euch vielleicht mehr - der Suggestion zugeschrieben. Bei einer Suggestion handelt es sich um einen Reiz, der eine Beeinflussung erzielen soll oder kann.[36] Forensisch relevant wird ein Suggestionseffekt beispielsweise - und nun kehren wir zu polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren zurück - wenn die Polizist:innen, die die Gegenüberstellung durchführen, wissen, um wen es sich bei der tatverdächtigen Person handelt. Dies kann bewusst oder unbewusst dazu führen, dass sie Hinweise in jeglicher Form auf die Täter:innenidentität geben und dies die Entscheidung von Augenzeug:innen beeinflussen kann.[37] Deshalb wäre hier wichtig, die Gegenüberstellung doppelblind durchzuführen, also so, dass weder Augenzeug:in noch Durchführer:in wissen, wer die tatverdächtige Person ist. Die Entscheidung von Augenzeug:innen kann aber auch durch eine interrogative suggestive Instruktion, also beispielweise allein der Aufforderung: „Identifizieren Sie nun bitte den Täter!“, beeinflusst werden.[38][39] Tatsächlich erhöht zwar eine solche Aufforderung die Anzahl korrekter Identifizierungen, allerdings erhöht sich auch die Anzahl von Falschidentifizierungen, wenn sich die Zielperson nicht unter den Gegenüberstellungspersonen findet.

Fassen wir das mal, auch mithilfe unserer Eingangsszene, zusammen: Gegenüberstellungen sollten hinsichtlich möglicher suggestiver Einflüsse doppelblind durchgeführt und Instruktionen so gegeben werden, dass es keine Hinweise darüber gibt, ob sich die tatverdächtige Person tatsächlich in der Aufstellung befindet.[40] Forensisch relevant wird die Suggestion auch, wenn eine Falschinformation, die zwischen dem Wahrnehmen und dem Abruf eines Ereignisses präsentiert wird und so die Erinnerung an dieses Ereignis beeinflusst. Um uns unserer Better Call Saul-Szene zu bedienen, wäre eine solche Falschinformation also der ausgetauschte, aber doch sehr ähnlich aussehende Mandant. Der Zeuge unterlag somit einem Falschinformationseffekt als er wiederholt bestätigte, dass dies der Mann sei, der ihn ausgeraubt habe. Falschinformationen führen schließlich nicht nur zu einer Veränderung der Erinnerungsinhalte an ein Ereignis, sondern darüber hinaus auch zu einer Veränderung der Zeug:innennaussage.[41] Bereits im Jahr 1904 wurde darauf aufmerksam gemacht, dass eine Zeug:innenaussage auch als Produkt der Befragungstechnik angesehen werden muss.[42] Legt eine Befragung bereits bestimmte Antworten durch eine:n Zeug:in nahe, kann folglich die daraus resultierende Aussage nicht mehr als ein zuverlässiger Bericht über den Vernehmungsgegenstand betrachtet werden.

Too much information to handle? – Der Umgang mit Personenidentifizierungen als Beweismittel

Dass Augenzeug:innen eine so wichtige Rolle im Strafrecht einnehmen, stellt, vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Befunde, Entscheidungsfinder:innen in Polizei und Justiz vor große Herausforderungen. So werden im Rahmen eines interdisziplinären Austauschs mit der Rechtspsychologie evidenzbasierte Handlungsempfehlungen ausgesprochen, um den Beweiswert von Personenidentifizierungen zu erhöhen: Wegen begrenzter polizeilicher Ressourcen kann eine Zeug:innenvernehmung häufig nicht unmittelbar stattfinden. Damit detaillierte Erinnerungen nicht verloren gehen, können Zeug:innen eine sogenanntes Eigenständiges Vernehmungsprotokoll durchführen.[43] Des Weiteren ist eine sorgfältige Vorbereitung und Dokumentation der Gegenüberstellung[44] auch für spätere Analysen bei der Beweiswürdigung unter Hinzuziehung sachkundiger Expert:innen unabdingbar. Diese Sachverständigen prüfen, wie die Identifizierungsleistung zustande gekommen und inwiefern situative Faktoren beeinflussend gewirkt haben könnten. Ihre Aufgabe ist hingegen nicht zu untersuchen, ob die Zeug:innenaussage glaubhaft ist oder nicht.[45][46] Auch das Abfragen der subjektiven Sicherheit von Augenzeug:innen unmittelbar nach ihrer Identifizierungsleistung kann bedeutsam für die Beweiswürdigung sein. Sind sich Augenzeug:innen in ihrer Entscheidung besonders sicher, kann dies für die Ermittlungsbeamt:innen für die Bewertung der Identifizierungsleistung und folgende Ermittlungshandlungen hilfreich sein.[47] Schließlich gilt es, Entscheidungsfinder:innen für mögliche Einflussfaktoren zu sensibilisieren: Bundesweit flächendeckend durchgeführte, wissenschaftlich fundierte Polizeitrainings[48] scheinen auch deshalb empfehlenswert, da Polizist:innen nicht über mehr Wissen hinsichtlich psychologischer Prozesse, wie der Gedächtnisleistung, verfügen als die breite Öffentlichkeit, dabei aber fester von ihren Ansichten überzeugt sind.[49]

Mythos Personenidentifizierung – Ein Fazit

Obwohl wir schlussfolgernd einschränkend anmerken müssen, dass wir in diesem Beitrag nur einen oberflächlichen Blick auf das Forschungsfeld der Personenidentifizierung werfen konnten, kommen wir dennoch zu einer recht eindeutigen Beantwortung unseres Mythos: Es verwundert nicht, dass uns in Film und Fernsehen suggeriert wird, Augenzeug:innen seien unzuverlässig und dass dies bei Personenidentifizierungen natürlich besonders überrascht. Schließlich gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren, die in fehlerhaften Identifizierungsaussagen resultieren können. Gleichwohl wäre es ganz und gar nicht zielführend, Augenzeug:innen hinsichtlich ihrer Identifizierungsleistung als unzuverlässig abzutun. Ihre Aussagen sind als Beweismittel für unser Rechtssystem von immenser Wichtigkeit. Es gilt also, den Beweiswert der Personenidentifizierung durch Augenzeug:innen zu erhöhen. So müssen Identifizierungsaussagen im Kontext möglicher Einflussfaktoren betrachtet und während der Ermittlung und Gerichtsverhandlung dahingehend sorgfältig geprüft werden. Die Fülle der möglichen Faktoren, die eine Identifizierungsleistung durch Augenzeug:innen beeinflussen können und die Erkenntnis, dass unser Gedächtnis überaus fehleranfällig ist, ruft in Euch vielleicht berechtigte Zweifel hervor, ob Ihr selbst im Fall der Fälle zuverlässige Augenzeug:innen abgeben würdet. Diese Sorge wollen wir Euch aber nehmen: Ihr habt nun, da wir gemeinsam den Mythos entmystifiziert haben, ein entsprechendes Know-how rund um die beeinflussenden Faktoren. Das kann Euch im besten Fall helfen, einen geschärften Blick für das Auftreten dieser Einflüsse zu haben und so weniger anfällig für verzerrte Entscheidungsprozesse zu sein.[50] Damit helft Ihr, die Beurteilung von Identifizierungsaussagen durch Entscheidungsfinder:innen zu verbessern. Dies würde einerseits Personen, die zu Unrecht beschuldigt wurden, und andererseits der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen, da bei falschen Verurteilungen die tatsächlichen Täter:innen straffrei ausgehen. Schließlich wollen wir Euch dazu einladen, in die Rolle von Augenzeug:innen zu schlüpfen und Euer Augenzeug:innengedächtnis in einem Gegenüberstellungsexperiment zu testen.

 

Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Gegenüberstellungsexperiment

Testet Euer Augenzeug:innengedächtnis und nehmt an einem Gegenüberstellungsexperiment[51] teil:

Gegenüberstellungsexperiment - Ein Rollenspiel als AugenzeugIn bei Personenidentifizierungen

 

Referenzen

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Plötzlich Augenzeug:in – wie unser Gedächtnis für Gesichter funktioniert

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Augenzeug:innen im polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren

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Vorsicht: Falschinformation! Was das Augenzeug:innengedächtnis suggestibel macht

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Too much information to handle? – Der Umgang mit Personenidentifizierungen als Beweismittel

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Mythos Personenidentifizierung – Ein Fazit

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Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Gegenüberstellungsexperiment

[51] Das implementierte Bildmaterial wurde von Frau E. F. Loftus mit schriftlicher Genehmigung für diese Projektarbeit freigegeben. Das originale Material wurde zwecks Kontrasterhöhung bearbeitet.

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