Mythos: Augenzeug:innen sind bei Personenidentifizierungen unzuverlässig!

Projektarbeit 2020 I Geschätzte Lesezeit: 17 min

 

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Zugegeben, in der Realität würde die Verteidigung in einem Strafprozess wohl kaum ein solches Vorgehen wählen wie der Protagonist Saul Goodman in dieser Szene der US-amerikanischen Dramaserie Better Call Saul. Gleichwohl hat der fiktive Strafverteidiger einen guten Punkt: Unser Gedächtnis ist fehleranfällig. Saul Goodman macht sich dies als Strategie zunutze, indem er seinen Mandanten mit einer ähnlich aussehenden Person ersetzt. Die Annahme Goodmans, der Augenzeuge sei unzuverlässig, wird bestätigt als dieser den falschen Beschuldigten als Täter identifiziert. Auf diese Weise macht der Strafverteidiger alle Anwesenden im Gerichtssaal und schließlich auch uns Zuschauer:innen darauf aufmerksam, dass wir Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen womöglich mehr Bedeutsamkeit zumessen als sie verdienen. Ist da womöglich was dran?

Der Augenzeug:innenbeweis ist in der gerichtlichen Praxis ebenso häufig wie fehlerbelastet: Fehlerhafte Zeug:innenaussagen haben in einer Vielzahl von Fällen wesentlich zur Verurteilung unschuldiger Personen beigetragen. Sie werden mitunter als die häufigste Ursache für Justizirrtümer angesehen.[1] Für das Rechtssystem stellt eine fälschliche Verurteilung einen Fehlschlag in zweifacher Hinsicht dar: So wird eine unschuldige Person nicht nur bestraft, in aller Regel lässt sie auch eine schuldige straffrei ausgehen. Der Fehleranfälligkeit von Augenzeug:innenberichten wird sich in Film und Fernsehen gern bedient, wenn aufsehenerregende Justizirrtümer behandelt werden. Eine besondere Spannung kommt dann noch hinzu, wenn szenisch dargestellt wird, wie Augenzeug:innen den Täter:innen gegenübertreten und diese auch als solche identifizieren. Tatsächlich haben Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen auch eine besonders überzeugende Wirkung.[2] Dass in unserer Szene aus Better Call Saul alle Anwesenden in der Gerichtsverhandlung auf die Falschidentifizierung überrascht reagieren, ist folglich nicht verwunderlich. Zugleich vermitteln uns solche Szenen aber auch den Mythos, dass Augenzeug:innen bei Personenidentifizierungen unzuverlässig sind. Um dem hinreichend auf den Grund zu gehen, werden wir uns in diesem Beitrag damit beschäftigen wie unser Gedächtnis für andere Gesichter zu unterschiedlichen Zeitpunkten funktioniert; wie polizeiliche Gegenüberstellungen durchgeführt werden; ob Personeneigenschaften von Augenzeug:innen eine Rolle spielen; wie suggestibel wir als Augenzeug:innen sind und wie wir mit der Personenidentifizierung als Beweismittel umgehen müssen. Schließlich habt Ihr auch die Gelegenheit Euer Augenzeug:innengedächtnis in einem Gegenüberstellungsexperiment auf die Probe zu stellen.

Plötzlich Augenzeug:in – wie unser Gedächtnis für Gesichter funktioniert

Wenn wir verstehen wollen, wie es zu Falschidentifizierungen durch Zeug:innen - wie in der dargestellten Gerichts-Szene aus Better Call Saul - kommen kann, müssen wir die Zeit zurückdrehen: Den Anfang machen wir mit dem Moment, in dem jemand Augenzeug:in einer Straftat wird. In einer solchen Wahrnehmungsphase verwenden Zeug:innen automatisch bestimmte Stereotype oder auch Erwartungen, um ein beobachtetes Gesicht verarbeiten zu können.[3] Wie gut diese Verarbeitung gelingt, hängt dabei von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab, wie beispielsweise den Lichtverhältnissen, der Entfernung der Zeug:innen, dem Beobachtungswinkel auf das entsprechende Gesicht oder dem von Zeug:innen empfundenen Stress, beispielsweise wegen einer im Tatgeschehen involvierten Waffe[4].[5] Besonders relevant ist auch die Dauer der Beobachtung, denn eine längere Beobachtungsdauer kann sich begünstigend auf das spätere Wiedererkennen auswirken.[6][7][8] Meist dauert die kritische Situation aber nur wenige Sekunden an, wodurch Augenzeug:innen vor der großen Herausforderung stehen, das wahrgenommene Gesicht auch im Gedächtnis zu behalten. Entsprechend kann eine längere Behaltensphase, also die Dauer zwischen der Wahrnehmung und dem Abrufen eines Gesichts, ein schlechteres Wiedererkennen bedeuten.[9] Wir stellen also fest, dass Zeit einen wichtigen Faktor darstellt und nehmen uns dazu mal Zahlen zu Hilfe: In einer Untersuchung[10] betrug die Beobachtungsdauer 15 Sekunden. Nach dem Ende dieser Wahrnehmungsphase wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Behaltensphase getestet, wie gut das Wiedererkennen gelingt: Unmittelbar nach der Beobachtung lag die Trefferrate nur noch bei 70 %. Eine halbe Stunde später betrug sie 65 %, zwei Stunden später 54 % und nach einem Tag 55 %. Umgekehrt wurde auch untersucht, wie häufig falsches Wiedererkennen auftrat, also ein Gesicht vermeintlich wiedererkannt wurde, obwohl ein anderes beobachtet wurde: Hier lag die Rate unmittelbar nach der Beobachtung bei 18 %, stieg nach einer halben Stunde auf 44 %, nach zwei Stunden auf 58 % und betrug nach einem Tag 53 %. Im Vergleich mit den Raten korrekter Wiedererkennungen ist also der Einfluss der Behaltensphase auf die Anzahl fälschlicher Wiedererkennungen etwas geringer.[11]

Fassen wir das Ganze mal zusammen: Bereits in der Wahrnehmungssituation gibt es viele Faktoren, die beeinflussen, wie gut wir ein Gesicht verarbeiten können. Obwohl sich eine längere Beobachtungsdauer begünstigend auf ein späteres Wiedererkennen auswirken kann, ist aber auch das Behalten entscheidend durch seine Dauer geprägt: Mit zunehmend längerem Behaltensintervall nimmt die Gedächtnisleistung für Gesichter ab und die Anzahl fälschlich wiedererkannter Gesichter nimmt zu.[12] Wir sind tatsächlich schon unmittelbar nach der Beobachtung nicht mehr besonders gut darin, ein soeben wahrgenommenes Gesicht korrekt abzurufen.[13] Die Behaltensphase ist darüber hinaus anfällig für die Verarbeitung nachträglicher Informationen.[14] Das wird später noch wichtig für uns werden.

Augenzeug:innen im polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren

Für die polizeiliche Ermittlungsarbeit können Aussagen von Augenzeug:innen ungemein wichtig sein. Die routinemäßige Ermittlungshandlung kann beinhalten, dass Augenzeug:innen die beobachtete Zielperson beschreiben und die Polizei auf dieser Basis die polizeiliche Lichtbildkartei zum Auffinden der tatverdächtigen Person sichtet.[15] Dass eine detaillierte Personenbeschreibung automatisch zu einer verlässlicheren Identifizierung führt, ist, entgegen juristischer Annahmen,[16] übrigens nicht empirisch gestützt.[17][18] Um einen möglichst hohen Beweiswert der Augenzeug:innenaussage erzielen zu können, werden nicht nur Lichtbildvorlagen von Tatverdächtigen für eine Gegenüberstellung vorbereitet, sondern auch solche, auf denen ähnlich aussehende Vergleichspersonen - sogenannte Distraktoren - abgebildet sind. Bei einer solchen Konstellation spricht man von einer Wahlgegenüberstellung, da hier Augenzeug:innen zwischen tatverdächtigen Personen und Distraktoren wählen müssen. Wichtig ist in der Personenzusammenstellung, dass diese sich untereinander in ihrem äußeren Erscheinungsbild ähnlich sind. Dadurch wird die Aufgabe des Wiedererkennens zwar schwerer im Lichte viele sich ähnelnder Personen, der Beweiswert dafür jedoch deutlich erhöht: Die Gegenüberstellungsperson wird im besten Fall tatsächlich wiedererkannt und nicht mehr oder weniger zufällig erinnert.[19]

Eigene Darstellung in Anlehnung an: [20]

Polizeiliche Gegenüberstellungsverfahren unterscheiden sich in ihrer Durchführung in einigen Punkten. Dabei wirken sich manche Vorgehensweisen begünstigender auf die Identifizierungsleistung durch Augenzeug:innen aus als andere. Hinsichtlich der Präsentation gibt es zwei Möglichkeiten für eine Gegenüberstellung: Eine simultane Gegenüberstellung der Tatverdächtigen und Distraktoren kann dazu führen, dass Augenzeug:innen zwischen den Personen vergleichen, was zu einer relativen Wahl für die vermeintlich ähnlichste Person führt, anstatt eine einzelne Person mit der aus ihrer Erinnerung abzugleichen.[21] Wird die Wahlgegenüberstellung sequenziell, also aufeinanderfolgend, durchgeführt, kann für jede Person einzeln eine absolute Entscheidung erfolgen und ist folglich weniger anfällig für mögliche Falschidentifizierungen.[22] Zwar führt die sequenzielle Durchführung tatsächlich zu einer geringeren Anzahl von Falschidentifizierungen, wenn sich der Täter nicht in der Gegenüberstellung befindet, allerdings ist auch die Anzahl der korrekten Identifizierungen etwas geringer als bei simultaner Vorgehensweise.[23] Alternativ zu den Lichtbildvorlagen kann auch eine Video- oder gar Live-Gegenüberstellung, was den ein oder anderen an prominente CSI-Szenen erinnern mag, durchgeführt werden. Diese drei Präsentationsmedien unterscheiden sich zwar hinsichtlich der Identifizierungsleistung nicht,[24] allerdings sind Lichtbildvorlagen wohl am ökonomischsten und erleichtern auch die Konstruktion einer fairen Gegenüberstellung tatverdächtiger Personen.[25]

Zusammenfassend ist eine polizeiliche Gegenüberstellung also dann optimal durchgeführt, wenn die Personenzusammenstellung geeignete Distraktoren beinhaltet, bestenfalls anhand von Lichtbildern erfolgt und die Personen im Sinne einer Vermeidung möglicher Falschidentifizierungen sequenziell durchgeführt wird.

Eigenschaften von Augenzeug:innen und ihr Einfluss auf die Identifizierungsleistung

Nun fragt Ihr Euch sicherlich, ob manche Augenzeug:innen besser Personen identifizieren können als andere. Seit vielen Jahrzehnten werden in der Forschungsliteratur weitestgehend ähnliche Befunde zu gängigen personalen Faktoren berichtet, die wir uns etwas genauer ansehen wollen: Das Alter spielt bei erwachsenen Augenzeug:innen keine nennenswerte Rolle - ob Ihr nun in Euren 20ern oder 50ern seid, macht Euch also nicht zu besseren oder schlechteren Augenzeug:innen. Bei Augenzeug:innen höheren Alters hingegen fand man zwar vereinzelt vergleichbar schlechtere Leistungen,[26] allerdings verbessert sich deren Leistung wieder, wenn sie eine Person identifizieren, die ein ähnliches Alter aufweist, was man auch als own-age effect bezeichnet.[27] Kinder weisen hingegen eine hohe Anzahl von Falschidentifizierungen auf,[28] mit zunehmendem Alter steigt ihre Leistung jedoch.[29] Welchem Geschlecht sich Augenzeug:innen zugehörig fühlen, hat kaum einen bedeutsamen Einfluss auf die Identifizierungsleistung. Ein Geschlecht ist also nicht per se besser als ein anderes – so der allgemeine Konsens zum heutigen Forschungsstand. Die Treffsicherheit ist aber leicht erhöht, wenn Augenzeug:innen das gleiche Geschlecht aufweisen wie die zu identifizierende Person.[30] Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn Ihr als Augenzeug:innen einer anderen Ethnie zugehörig seid als die zu identifizierende Person: Der sogenannte cross-race effect beschreibt das schlechtere Wiedererkennen von Personen anderer ethnischer Gruppen. Dieser Effekt, der sich in einer breit angelegten Metaanalyse nicht nur als groß, sondern auch vergleichbar zwischen den untersuchten Ethnien erwies,[31] hält sich seit vielen Jahren äußerst robust in der Forschung. Gleichwohl die Befunde als äußerst verlässlich gelten, existieren bis heute umstrittene Erklärungsansätze für den cross-race effect. Ein Ansatz, der verschiedene Erklärungen zusammenfasst, geht beispielweise davon aus, dass Gesichter der eigenen Ethnie eher ganzheitlich verarbeitet werden, während man Gesichter anderer Ethnien zunächst zu kategorisieren versucht, bevor sie dann ganzheitlich verarbeitet werden können.[32]

[33][34]

Zusammenfassend sind also für sich allein genommen Personeneigenschaften von erwachsenen Augenzeug:innen nicht sonderlich bedeutsam für ihre Identifizierungsleistung. Stellenweise ist aber unter praktischen Gesichtspunkten eine gemeinsame Betrachtung von Augenzeug:innen und zu identifizierenden Personen, vor allem wenn es um die jeweiligen Ethnienzugehörigkeiten geht, begründet und es sollte entsprechend skeptisch mit getroffenen Aussagen umgegangen werden.

Vorsicht: Falschinformation! Was das Augenzeug:innengedächtnis suggestibel macht

Wir erinnern uns, dass die empfindliche Behaltensphase für Augenzeug:innen noch wichtig für uns werden sollte: Werden zu einem Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat (zum Beispiel eine beobachtete Straftat), nachträgliche, falsche Informationen präsentiert (zum Beispiel andere Tatverdächtige), kann dies zu einer Veränderung der Erinnerungsinhalte an das Ereignis führen. Dieses Phänomen wird als Falschinformationseffekt bezeichnet.[35] Dieser Effekt wird - und dieser Begriff sagt Euch vielleicht mehr - der Suggestion zugeschrieben. Bei einer Suggestion handelt es sich um einen Reiz, der eine Beeinflussung erzielen soll oder kann.[36] Forensisch relevant wird ein Suggestionseffekt beispielsweise - und nun kehren wir zu polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren zurück - wenn die Polizist:innen, die die Gegenüberstellung durchführen, wissen, um wen es sich bei der tatverdächtigen Person handelt. Dies kann bewusst oder unbewusst dazu führen, dass sie Hinweise in jeglicher Form auf die Täter:innenidentität geben und dies die Entscheidung von Augenzeug:innen beeinflussen kann.[37] Deshalb wäre hier wichtig, die Gegenüberstellung doppelblind durchzuführen, also so, dass weder Augenzeug:in noch Durchführer:in wissen, wer die tatverdächtige Person ist. Die Entscheidung von Augenzeug:innen kann aber auch durch eine interrogative suggestive Instruktion, also beispielweise allein der Aufforderung: „Identifizieren Sie nun bitte den Täter!“, beeinflusst werden.[38][39] Tatsächlich erhöht zwar eine solche Aufforderung die Anzahl korrekter Identifizierungen, allerdings erhöht sich auch die Anzahl von Falschidentifizierungen, wenn sich die Zielperson nicht unter den Gegenüberstellungspersonen findet.

Fassen wir das mal, auch mithilfe unserer Eingangsszene, zusammen: Gegenüberstellungen sollten hinsichtlich möglicher suggestiver Einflüsse doppelblind durchgeführt und Instruktionen so gegeben werden, dass es keine Hinweise darüber gibt, ob sich die tatverdächtige Person tatsächlich in der Aufstellung befindet.[40] Forensisch relevant wird die Suggestion auch, wenn eine Falschinformation, die zwischen dem Wahrnehmen und dem Abruf eines Ereignisses präsentiert wird und so die Erinnerung an dieses Ereignis beeinflusst. Um uns unserer Better Call Saul-Szene zu bedienen, wäre eine solche Falschinformation also der ausgetauschte, aber doch sehr ähnlich aussehende Mandant. Der Zeuge unterlag somit einem Falschinformationseffekt als er wiederholt bestätigte, dass dies der Mann sei, der ihn ausgeraubt habe. Falschinformationen führen schließlich nicht nur zu einer Veränderung der Erinnerungsinhalte an ein Ereignis, sondern darüber hinaus auch zu einer Veränderung der Zeug:innennaussage.[41] Bereits im Jahr 1904 wurde darauf aufmerksam gemacht, dass eine Zeug:innenaussage auch als Produkt der Befragungstechnik angesehen werden muss.[42] Legt eine Befragung bereits bestimmte Antworten durch eine:n Zeug:in nahe, kann folglich die daraus resultierende Aussage nicht mehr als ein zuverlässiger Bericht über den Vernehmungsgegenstand betrachtet werden.

Too much information to handle? – Der Umgang mit Personenidentifizierungen als Beweismittel

Dass Augenzeug:innen eine so wichtige Rolle im Strafrecht einnehmen, stellt, vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Befunde, Entscheidungsfinder:innen in Polizei und Justiz vor große Herausforderungen. So werden im Rahmen eines interdisziplinären Austauschs mit der Rechtspsychologie evidenzbasierte Handlungsempfehlungen ausgesprochen, um den Beweiswert von Personenidentifizierungen zu erhöhen: Wegen begrenzter polizeilicher Ressourcen kann eine Zeug:innenvernehmung häufig nicht unmittelbar stattfinden. Damit detaillierte Erinnerungen nicht verloren gehen, können Zeug:innen eine sogenanntes Eigenständiges Vernehmungsprotokoll durchführen.[43] Des Weiteren ist eine sorgfältige Vorbereitung und Dokumentation der Gegenüberstellung[44] auch für spätere Analysen bei der Beweiswürdigung unter Hinzuziehung sachkundiger Expert:innen unabdingbar. Diese Sachverständigen prüfen, wie die Identifizierungsleistung zustande gekommen und inwiefern situative Faktoren beeinflussend gewirkt haben könnten. Ihre Aufgabe ist hingegen nicht zu untersuchen, ob die Zeug:innenaussage glaubhaft ist oder nicht.[45][46] Auch das Abfragen der subjektiven Sicherheit von Augenzeug:innen unmittelbar nach ihrer Identifizierungsleistung kann bedeutsam für die Beweiswürdigung sein. Sind sich Augenzeug:innen in ihrer Entscheidung besonders sicher, kann dies für die Ermittlungsbeamt:innen für die Bewertung der Identifizierungsleistung und folgende Ermittlungshandlungen hilfreich sein.[47] Schließlich gilt es, Entscheidungsfinder:innen für mögliche Einflussfaktoren zu sensibilisieren: Bundesweit flächendeckend durchgeführte, wissenschaftlich fundierte Polizeitrainings[48] scheinen auch deshalb empfehlenswert, da Polizist:innen nicht über mehr Wissen hinsichtlich psychologischer Prozesse, wie der Gedächtnisleistung, verfügen als die breite Öffentlichkeit, dabei aber fester von ihren Ansichten überzeugt sind.[49]

Mythos Personenidentifizierung – Ein Fazit

Obwohl wir schlussfolgernd einschränkend anmerken müssen, dass wir in diesem Beitrag nur einen oberflächlichen Blick auf das Forschungsfeld der Personenidentifizierung werfen konnten, kommen wir dennoch zu einer recht eindeutigen Beantwortung unseres Mythos: Es verwundert nicht, dass uns in Film und Fernsehen suggeriert wird, Augenzeug:innen seien unzuverlässig und dass dies bei Personenidentifizierungen natürlich besonders überrascht. Schließlich gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren, die in fehlerhaften Identifizierungsaussagen resultieren können. Gleichwohl wäre es ganz und gar nicht zielführend, Augenzeug:innen hinsichtlich ihrer Identifizierungsleistung als unzuverlässig abzutun. Ihre Aussagen sind als Beweismittel für unser Rechtssystem von immenser Wichtigkeit. Es gilt also, den Beweiswert der Personenidentifizierung durch Augenzeug:innen zu erhöhen. So müssen Identifizierungsaussagen im Kontext möglicher Einflussfaktoren betrachtet und während der Ermittlung und Gerichtsverhandlung dahingehend sorgfältig geprüft werden. Die Fülle der möglichen Faktoren, die eine Identifizierungsleistung durch Augenzeug:innen beeinflussen können und die Erkenntnis, dass unser Gedächtnis überaus fehleranfällig ist, ruft in Euch vielleicht berechtigte Zweifel hervor, ob Ihr selbst im Fall der Fälle zuverlässige Augenzeug:innen abgeben würdet. Diese Sorge wollen wir Euch aber nehmen: Ihr habt nun, da wir gemeinsam den Mythos entmystifiziert haben, ein entsprechendes Know-how rund um die beeinflussenden Faktoren. Das kann Euch im besten Fall helfen, einen geschärften Blick für das Auftreten dieser Einflüsse zu haben und so weniger anfällig für verzerrte Entscheidungsprozesse zu sein.[50] Damit helft Ihr, die Beurteilung von Identifizierungsaussagen durch Entscheidungsfinder:innen zu verbessern. Dies würde einerseits Personen, die zu Unrecht beschuldigt wurden, und andererseits der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen, da bei falschen Verurteilungen die tatsächlichen Täter:innen straffrei ausgehen. Schließlich wollen wir Euch dazu einladen, in die Rolle von Augenzeug:innen zu schlüpfen und Euer Augenzeug:innengedächtnis in einem Gegenüberstellungsexperiment zu testen.

 

Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Gegenüberstellungsexperiment

Testet Euer Augenzeug:innengedächtnis und nehmt an einem Gegenüberstellungsexperiment[51] teil:

Gegenüberstellungsexperiment - Ein Rollenspiel als AugenzeugIn bei Personenidentifizierungen

 

Referenzen

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Plötzlich Augenzeug:in – wie unser Gedächtnis für Gesichter funktioniert

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[14] Sporer, S. L. (1992). Das Wiedererkennen von Gesichtern. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Augenzeug:innen im polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren

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Eigenschaften von Augenzeug:innen und ihr Einfluss auf die Identifizierungsleistung

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Vorsicht: Falschinformation! Was das Augenzeug:innengedächtnis suggestibel macht

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Too much information to handle? – Der Umgang mit Personenidentifizierungen als Beweismittel

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[48] Jünemann, A. (2016). Wie sich Fehler bei polizeilichen Gegenüberstellungsverfahren vermeiden lassen. In F. C. Brodbeck (Hrsg.). Evidenzbasierte Wirtschaftspsychologie, (11). München: Ludwig-Maximilians-Universität.

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Mythos Personenidentifizierung – Ein Fazit

[50] Croskerry, P. (2013). From Mindless to Mindful Practice - Cognitive Bias and Clinical Decision Making. The New England Journal of Medicine, 368(26), 2445-2448.

Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Gegenüberstellungsexperiment

[51] Das implementierte Bildmaterial wurde von Frau E. F. Loftus mit schriftlicher Genehmigung für diese Projektarbeit freigegeben. Das originale Material wurde zwecks Kontrasterhöhung bearbeitet.