Projektarbeit 2020 I Geschätzte Lesezeit: 20 min
Eine Straftat so zu verhindern oder wahrheitsgemäß aufzuklären, wie Dr. Cal Lightman es in der Eröffnungsszene der US-amerikanischen Serie lie to me demonstriert, ist beeindruckend zu beobachten. Stellt man sich vor, dass Wahrheit und Lüge so einfach erkannt werden können, so würde das nicht nur das alltägliche Leben vieler erleichtern, sondern vor allem auch ein gerechteres Strafrechtssystem schaffen. Wenn Dr. Lightman schließlich den Ermittler:innen und uns als Zuschauer:innen seine Methodik und Vorgehensweise erläutert, wirkt die Sache weder allzu kompliziert noch besonders realitätsfern: Es gilt während einer Befragung sogenannte Mikroexpressionen zu erkennen. Diese sind sehr kurze Gesichtsausdrücke eines Gefühls und gelten als unbeabsichtigte und ehrliche Reaktion.[1] Wenn also geschulte Gesprächsführer:innen diese Mikroexpressionen zuverlässig erkennen können, so entdecken sie die wahren Ansichten und Motive ihres Gegenüber. Ähnlich wie im vorliegenden Fall scheint eine Aussage des Verdächtigen dann fast überflüssig, denn der Täter ist nach den Ermittlungen des FBI eindeutig überführt und der Fall gelöst. Natürlich ist klar: In der Realität ist es nicht ganz so einfach. Doch wie funktioniert Lügenerkennung? Und können Lügen durch Beobachtung von Reaktionen und Verhaltensweisen aufgedeckt werden?
Fragt man die Suchmaschine seiner Wahl, wie Lügen erkannt werden können, so finden sich unzählige Artikel, Berichte und Videos auf den verschiedensten Plattformen im Internet. Sie fassen sogenannte typische Verhaltens- und Ausdrucksmuster von Lügner:innen zusammen und haben meist zum Ziel, dass Leser- und Zuschauer:innen in Zukunft Lügen im Alltag leichter identifizieren können. Lügner:innen bauen laut Stereotyp beispielsweise weniger Blickkontakt zum Gegenüber auf und zeigen vermehrte Hand-, Kopf- und Fußbewegungen, welche den Eindruck eines „nervösen Zappelphilipps“ vermitteln.[2] Kommt Euch dieser Mythos, dass Lügner:innen anhand spezifischer Verhaltensweisen identifiziert werden können, bekannt vor? Falls ja, damit seid ihr nicht alleine. Studien haben gezeigt, dass die Vorstellung vom ‚typischen‘ Verhalten der Lügner:innen sowohl bei Laien als auch bei Polizist:innen und Richter:innen besteht.[3] Auch in anderen Formaten aus Film und Fernsehen wird Zuschauer:innen vermittelt, dass beispielsweise genügend Erfahrung als Ermittler:in ausreiche, um an ‚charakteristischen‘ Verhaltensmustern zu erkennen, ob die Aussage der Lüge oder Wahrheit entspräche. Im Einklang dazu steht die Annahme, dass Menschen auf Basis von Film- und Fernsehgeschehen dargestellte Verhaltensweisen erlernen und ihre Urteilsbildung daran ausrichten.[4] Der Effekt, dass Informationen aus ‚bewegten Bildern‘ besser erinnert werden als aus verschriftlichen Quellen, auch wenn diese nicht auf tatsächlichen Fakten basieren beziehungsweise sich widersprechen, trägt zusätzlich dazu bei.[5] Man kann also schnell den Eindruck gewinnen, dass Lügen ähnlich wie in der Serie lie to me erkannt werden können. Daher soll der folgende Beitrag mit beschönigten und unrealistischen Methoden der Lügendetektion aus Film und Fernsehen aufräumen und den Mythos, Lügen könnten an spezifischen Verhaltensweisen erkannt werden, genau beleuchten. Dafür erhaltet Ihr einen Einblick in den aktuellen Stand der Lügenforschung sowie das Anwendungsfeld der ‚Lügenerkennung‘ (Beurteilung von Aussagen) im deutschen Strafrechtssystem.
Lügen über Lügen: Alltagslügen und Lügen im Strafrechtssystem
Lügen im Alltag sind nicht unbedingt eine Seltenheit und gelten als allgegenwärtig.[6] Jeder wird schon einmal ein „Wie geht es dir?“ unehrlich beantwortet oder Umstände und Aussagen verschönert haben, um höflich zu sein oder den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen. Studien nehmen an, dass Täuschungen und Lügen relativ häufig auftreten und Menschen durchschnittlich ein bis zwei Mal am Tag lügen.[7] Teilnehmer:innen gaben an, zwischen Null und mehr als 20 Mal innerhalb der letzten 24 Stunden gelogen zu haben. Dabei zeigt sich auch, dass die meisten gar nicht oder nur ein- bis zweimal täglich lügen und ein kleiner Anteil der Befragten (1 - 5 %) für einen Großteil beziehungsweise fast für die Hälfte aller Lügen verantwortlich ist.[8][9][10] Obwohl wir also alle täglich mit Lügen konfrontiert sind, sind Menschen nicht besonders gut darin, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Die Trefferquoten liegen meist nur etwas über 50% und entsprechen somit fast dem Zufallsniveau.[11][12] Kein Wunder also, dass die Idee eines zuverlässigen Lügendetektors allgemeine Faszination hervorruft.
Das Feld der Erforschung um Lügen und Lügenerkennung ist sehr breit gefächert und jeder Bereich setzt bei seiner Arbeit andere Schwerpunkte. An der Erforschung von Alltagslügen und wie man diese in seinem Gegenüber besser erkennen kann besteht, verständlicherweise, meist großes persönliches Interesse. Gleichzeitig wird angenommen, dass Alltagslügen eher banale Lügen sind und über die Beteiligten hinaus kaum Auswirkungen haben.[13] Im Strafrechtssystem ist das anders: Hier haben Lügen, die fälschlicherweise nicht erkannt werden, oder wahre Aussagen, die nicht als solche anerkannt werden, besonders schwerwiegende Konsequenzen - auch weil hierbei grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass Personen, die nicht die Wahrheit sagen, eine bewusste Täuschung vornehmen. Ein Szenario, welches dieses Spannungsfeld besonders illustrieren kann, ist eines, dass eine klassische „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellation darstellt. Bei einer Fehlentscheidung über Lüge oder Wahrheit wird entweder eine unschuldige Person verurteilt oder ein tatsächliches Opfer nicht als solches anerkannt und ein:e Täter:in bleibt unbestraft und auf freiem Fuß. Verurteilungen im Strafrechtssystem haben somit nicht nur individuelle Konsequenzen, sondern wirken sich auch auf die Gesellschaft aus.[14]
Methoden der Lügenerkennung
In Deutschland gilt, dass Beweismittel, die zum Beispiel im strafrechtlichen Verfahren genutzt werden sollen, offiziell als solche anerkannt sein müssen. Wenn also eine Methode zur Lügenerkennung im deutschen Strafrechtssystem zum Einsatz kommen soll, dann gelten hier erhöhte Ansprüche an die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Methode. Zudem muss eine Methode, die sich im Forschungskontext als zuverlässig erwiesen hat, auch im strafrechtlichen Kontext anwendbar sein. Wissenschaftler:innen aus den Fachbereichen Recht und Psychologie beschäftigen sich somit nicht nur mit der Entwicklung zuverlässiger Instrumente zur Lügendetektion, sondern vor allem auch mit der Anwendbarkeit der Methoden im strafrechtlichen Alltag. Es folgt ein Überblick über die vielleicht geläufigsten Ansätze der Lügenerkennung aus Film und Fernsehen und deren tatsächlichen Nutzung im Strafrechtssystem.
Mikroexpressionen à la lie to me
Kommen wir noch einmal auf die Szene aus dem Eingangsvideo zurück: Über Mikroexpressionen wurde bereits 1969 von Ekman und Friesen berichtet, die diese als kurze Ausdrücke von Emotionen beschreiben, welche meist unbemerkt bleiben und von der offensichtlichen Aussage einer Person überspielt werden.[15] Somit schlussfolgerten sie, dass Mikroexpressionen Aufschluss über Täuschungen geben können. Je nach Definition dauern sie 1/25 bis 1/3 einer Sekunde an[16][17] und werden oft den sieben Basisemotionen zugeordnet. Diese Emotionen gelten als biologisch und universell und umfassen Überraschung, Ekel, Freude, Angst, Verachtung, Wut und Trauer, wobei in der Emotionsforschung auch andere empirisch fundierte Modelle zu Basisemotionen bestehen.[18] Um anhand von Mikroexpressionen Lügen erkennen zu können, wird die Annahme getroffen, dass sich emotionale Ausdrücke bei Personen, die lügen und bei Personen, die die Wahrheit sagen unterscheiden. Weit verbreitet ist zum Beispiel die Vorstellung, dass Lügner:innen Angst oder Scham empfinden, da sie fürchten beim Lügen erwischt und entsprechend sozial bestraft zu werden.[19] Diese Annahme gilt jedoch nicht als bestätigt: Einerseits gehen Lügen nicht immer mit negativen Emotionen einher, sondern werden durchaus routiniert und ganz ohne schlechtes Gewissen formuliert. Andererseits erleben andere Personen, die verdächtigt werden, aber unschuldig sind und die Wahrheit sagen, Angst, Wut oder Scham im Rahmen eines Verhörs.[20] Somit ist es nicht zielführend, das Erkennen von Mikroexpressionen zur Lügendetektion im Strafrechtssystem zu nutzen. Selbst wenn Mikroexpressionen von forensischer Relevanz wären, könnte eine Person alleine kaum die Befragung und Erkennung gleichzeitig leisten, so wie in lie to me oftmals dargestellt. Denn Mikroexpressionen treten nur relativ selten auf und sind meist schwach ausgeprägt.[21] Es wird jedoch weiterhin an der Erkennung von Mikroexpressionen geforscht: Aktuelle Bemühungen konzentrieren sich dabei vor allem auf video- und algorhitmusbasierte Erkennung, um diese zum Beispiel in Flughäfen und im öffentlichen Raum zu nutzen.
Non-verbale Lügenindikatoren – der nervöse Zappelphilipp
Würde es allen Lügner:innen ähnlich wie Pinocchio ergehen, so würde deren Nase bei jeder Lüge ein merkliches Stück wachsen und bei jeder wahren Aussage ihre Länge behalten. Es gäbe also ein körperliches Merkmal, dass eindeutig auf eine Lüge hinweist. Oft wird Verhaltensweisen wie Körper-, Kopf und Handbewegungen zugeschrieben, sie würden auf Lügen hindeuten. Auch Blickrichtungen, häufiges Zwinkern oder der Einsatz von Illustratoren (redebegleitenden Gesten) werden in diesem Kontext diskutiert.[22] Dabei wird einerseits davon ausgegangen, dass eine Zunahme dieser Verhaltensweisen auf eine Täuschung hindeutet, ebenso existiert aber die Annahme, dass eine Abnahme dieser Gesten zum klassischen Verhalten von Lügner:innen zählt. Auch in US-amerikanischen Polizeimanualen wurden die Vermeidung von Blickkontakt und der häufige Wechsel der Körperhaltung als Indikatoren des Lügens genannt, obwohl es dafür bis heute keine eindeutigen Belege gibt.[23] Als theoretische Erklärung non-verbaler Lügenindikatoren können zwei in der Forschung etablierte Erklärungsansätze zur Interpretation herangezogen werden. Der Erregungsansatz, der davon ausgeht, dass Täuschungen bei denjenigen, die versuchen zu täuschen, eine erhöhte Erregung auslösen und deshalb typisch nervöse Verhaltensweisen zeigen. Und der Kontrollansatz, der erwarten lässt, das Lügner:innen sich besonders regulieren und sich eher gehemmt verhalten, um nicht beim Lügen erwischt zu werden.[24] Zusammenfassende Studien haben jedoch ergeben, dass es keine eindeutigen/zuverlässigen non-verbalen Indikatoren gibt, die mit Lügen einhergehen und nicht in wahren Aussagen auftreten.[25][26] Diese Verhaltensweisen können also sowohl bei gelogenen als auch bei wahren Aussagen auftreten und beispielsweise auf Nervosität oder Angst deuten. Zudem kann eine Befragungssituation ganz unabhängig von Lüge oder Wahrheit belastend sein und Angst sowie Nervosität hervorrufen.
Polygraph – der Klassiker unter den Lügendetektoren
Fällt der Begriff Lügendetektor, so denken viele wohl an Szenen aus US-amerikamischen Filmen und Serien und haben ein ungefähres Bild vor Augen: Eine verdächtige Person wird zur Befragung durch die Polizei an einen Apparat angeschlossen, der verschiedene körperliche Maße auf durchlaufendem Papier aufzeichnet. Ausschläge der aufgezeichneten Maße werden dabei kritisch beäugt. Dieses Gerät wird zwar umgangssprachlich als Lügendetektor bezeichnet, ist jedoch erst einmal nur ein Messinstrument, welches unterschiedliche Parameter aufzeichnet und deshalb Polygraph, also Vielschreiber, genannt wird. Schon im frühen 20. Jahrhundert wurde ein Gerät erfunden, welches auf Basis von Blutdruckmessungen Unwahrheiten und Täuschungen entdecken sollte.[27] Dieses diente, so wie vergleichbare Ansätze zur Aufzeichnung physiologischer Parameter, der Entwicklung des ersten Polygraphen durch John A. Larson im Jahr 1921.[28] Über die Jahre hinweg wurde der Polygraph weiterentwickelt. Heute zeichnet er meist kardiovaskuläre Aktivität (Puls und Blutdruck), die Änderung und Tiefe der Atemfrequenz und elektrodermale Aktivität (Änderung des Hautwiderstands durch Schwitzen) auf und visualisiert den Verlauf digital. Die zu Grunde liegende Theorie ist hier, dass psychologische Prozesse beim Lügen Änderungen dieser körperlichen Parameter hervorrufen. Eine Aufzeichnung der Parameter lasse somit Rückschlüsse auf diese Prozesse zu und könne helfen, Täuschungen und Lügen zu entdecken.[29] Da die körperlichen Reaktionen jedoch nicht grundsätzlich und eindeutig auf eine Täuschung zurückzuführen sind, kommt es, wenn es an die Interpretation geht, auf die Methode zur Befragung an.[30] Im Strafrecht sind der Kontrollfragentest und der Tatwissentest die zwei gängigsten Befragungstechniken, die in Kombination mit dem Polygraphen genutzt werden. Im Kontrollfragentest werden neutrale und tatbezogene Fragen sowie Kontrollfragen gestellt und die entsprechenden physiologischen Reaktionen verglichen. Problematisch ist dabei, dass die Fragen nicht standardisiert sind und aufgrund des Inhalts und der Struktur oft leicht voneinander zu unterscheiden sind. Somit können Unschuldige aber auch Täter:innen ihre Reaktionsweisen leicht an die Fragen anpassen.[31] Zudem stehen die theoretischen Annahmen hinter dem Kontrollfragentest in der Kritik und viele Forscher:innen lehnen das Verfahren ab, da eine ausreichende empirische Validierung fehlt.[32] Der Tatwissentest hingegen soll überprüfen, ob die tatverdächtige Person über spezifisches Tatwissen verfügt, also Details, die nur Ermittler:innen und Täter:innen kennen. Dafür werden beispielsweise Fragen zur Tatwaffe oder anderen spezifischen Gegebenheiten der Tat gestellt. Der Tatwissentest gilt in Laborstudien als zuverlässig, kann aber in Ermittlungsfällen zum Beispiel nicht mehr genutzt werden, sobald spezifisches Tatwissen an die Öffentlichkeit geraten ist.[33] Grundsätzlich gilt, dass die psychophysiologischen Maße, die anhand des Polygraphen erhoben werden, nicht immer problemlos und eindeutig zu interpretieren sind, denn es ist oft fraglich, ab wann eine gemessene physiologische Veränderung überhaupt bedeutsam ist.[34]
Der Einsatz von Polygraphen wird weltweit bis heute wiederholt diskutiert. In Deutschland ist nach der Sichtung wissenschaftlicher Gutachten die Verwendung von Polygraph-Verfahren als Beweismittel durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 17. Dezember 1998 - 1 StR 156/98 - BGHSt 44, 308 nicht anerkannt und vielmehr als „völlig ungeeignet“ eingestuft worden. In den USA stehen Befragungen mit Polygraphen teilweise auch in der Kritik, werden jedoch in Strafverfahren aber auch in Einstellungsverfahren sowie zur Überprüfung von Arbeitnehmer:innen nach wie vor genutzt.[35]
Glaubhaftigkeitsbeurteilung im deutschen Strafrechtssystem – wie wird es hier gelöst?
Bis hierhin sollte klar geworden sein, dass es trotz intensiver Forschungsbemühungen schwierig bleibt, die vielen Erkenntnisse über Lügen und Lügenerkennung auch tatsächlich zuverlässig im Strafrechtssystem anzuwenden. Die oben beschriebenen Methoden zur Lügenerkennung haben gemeinsam, dass sie ihren Fokus auf das Verhalten, also die physiologischen oder emotionalen Reaktionsweisen von Lügner:innen, legen. Ein alternativer Ansatz zur Erkennung von Täuschung ist der inhaltsorientierte Ansatz - hier steht der Inhalt der Aussage und nicht das Verhalten im Fokus. Dieser geht auf die Undeutsch-Hypothese aus dem Jahr 1967 zurück und besagt, dass wahre, auf einem Erlebnis basierende Aussagen, sich in Inhalt und Qualität von erfundenen Aussagen unterscheiden.[36] Diese Herangehensweise wird als kognitiver Ansatz zur Unterscheidung von Lüge und Wahrheit bezeichnet.[37] Es wird davon ausgegangen, dass es kognitiv aufwändiger ist, eine komplexe erfundene Aussage wiederzugeben als wahre erlebnisbasierte Aussagen zu tätigen.[38] Somit sollten Lüge und Wahrheit anhand inhaltlicher Kriterien unterschieden werden können.
Unter diesen Annahmen wurde die Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse (englisch: Criteria Based Content Analysis - kurz: CBCA) konzipiert, welche ursprünglich zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Kindern in Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt an Kindern entwickelt wurde.[39] Die CBCA ist aber ebenso für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Erwachsenen zu nutzen.[40] Die Beurteilung von Aussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Gerichts. In Ausnahmesituationen, beispielsweise bei problematischen „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellationen, kann ein Gutachten zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung beauftragt werden.[41] Dieses Gutachten wird von aussagepsychologischen Sachverständigen, meist Rechtspsycholog:innen, verfasst. Im Rahmen eines solchen Gutachtens wird grundsätzlich geprüft, ob eine getätigte Aussage auch genauso hätte entstehen können, ohne dass diese tatsächlich erlebnisbasiert ist.[42] Die CBCA ist dabei nur eine Methode, die zum Einsatz kommen kann. Auch das Reality Monitoring (RM)[43] ist weit verbreitet und gilt als ebenso effektiv in der Unterscheidung von erlebnisbasierten und nicht erlebnisbasierten Aussagen.[44] Beide Methoden analysieren den Inhalt einer Aussage und beziehen dabei persönliche Faktoren und die individuelle Situation der aussagenden Person mit ein. Die CBCA selbst beruht auf insgesamt 19 Realkennzeichen, die als Kriterien für die Überprüfung der Aussage genutzt werden, es müssen jedoch nicht alle vorhanden sein.[45] Dazu gehören beispielsweise allgemeine Merkmale der Aussage, wie quantitativer Detailreichtum und logische Konsistenz, aber auch andere Merkmale wie Schilderungen von Einzelheiten oder das Eingeständnis von Erinnerungslücken. Dass ein Eingeständnis von Erinnerungslücken für eine erlebnisbasierte Aussage spricht, mag im ersten Moment verwunderlich klingen, doch das menschliche Gedächtnis ist fehleranfällig und Erinnerungen sind oft nicht vollständig. Auch bei Personenidentifizierungen durch Augenzeug:innen muss die Fehleranfälligkeit des Gedächtnisses berücksichtigt werden, um die Zuverlässigkeit einer Aussage einschätzen zu können. Doch, so vielversprechend diese inhaltsanalytischen Methoden auch klingen, sie sind leider keine Allzweckwaffe der Lügenentdeckung. Sie sollten im Rahmen eines Gutachtens beispielsweise nicht als alleiniges Instrument eingesetzt werden, nur von geschulten Experten durchgeführt und im besten Fall von einem Zweitexperten kritisch hinterfragt werden. Und auch dann kann nicht mit absoluter Sicherheit zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden.[46] Außerdem haben Studien gezeigt, dass die CBCA beispielsweise in Fällen, die Sexualverbrechen oder Gewaltverbrechen in Partnerschaften betreffen, besser differenzieren kann als in anderen.[47] Dennoch ist die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbeurteilung eines der wenigen Instrumente, die im deutschen Strafrechtssystem tatsächlich Anwendung finden. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98 - BGHSt 45, 164 gelten hierfür wissenschaftliche Mindeststandards, die bei der Erstellung einer aussagepsychologischen Begutachtung eingehalten werden müssen. Auch wenn es also noch keine sichere Methode gibt, Lüge und Wahrheit zu trennen, ist die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbeurteilung in ausgewählten Fällen das vorerst zuverlässigste Mittel.
Mythos Lügendetektion – Ein Fazit
Bevor hier ein Fazit gezogen werden kann, gilt es noch einmal zu betonen: Der Themenbereich Lügendetektion ist vielschichtig und komplex. Es gibt fortlaufend neue Studien und Erkenntnisse, die sowohl unter den forschenden Wissenschaftler:innen als auch von praktizierenden Berufsgruppen wie Rechtsanwält:innen, Richter:innen und Rechtspsycholog:innen auf ihre Anwendbarkeit hin diskutiert werden. Dementsprechend erhebt dieser Beitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll vielmehr einen Einblick in die Komplexität der zuverlässigen Lügenerkennung geben.
Kommen wir noch einmal zurück zum Mythos der Lügendetektion: Können Lügner:innen nun anhand spezifischer Verhaltensweisen identifiziert werden? Der obige Einblick in die Forschung zeigt, dass trotz vielfältiger Anstrengungen bisher keine zuverlässige Methode der Lügenerkennung anhand eindeutiger Verhaltensweisen entwickelt werden konnte. Somit steht die Idee, dass dies einmal möglich sein könnte natürlich weiterhin im Raum, eindeutige empirische Befunde liegen jedoch nicht vor. Grundsätzlich können wir also festhalten: Eine Erkennung der Lüge anhand von physiologischen Veränderungen beispielsweise mithilfe eines Polygraphen, die Identifikation und Interpretation von Mikroexpressionen oder die Intuition erfahrener Ermittler:innen, welche die angeblich ‚typischen‘ Verhaltensweisen erkennen und somit Lüge von Wahrheit unterscheiden können, sind nicht realistisch. So wie die Lügendetektion in Film und Fernsehen oft dargestellt wird, ist sie in der Realität weder zuverlässig noch entspricht sie den Standards im deutschen Strafrechtssystem. Gleichzeitig sind die dargestellten Ermittlungsmethoden und Ansätze aber auch nicht erfunden oder gar an den Haaren herbeigezogen, sondern existieren so oder so ähnlich in der Forschung oder sogar in der Praxis. Bis heute gibt es intensive Bemühungen diese bestehenden Ansätze zur Lügendetektion weiter zu entwickeln. Der vergleichsweise junge Forschungsbereich der Neurowissenschaften untersucht beispielsweise die neuronale Aktivität verschiedener Hirnregionen während des Lügens, um neue Erkenntnisse zu erlangen. Doch auch dieser Forschungsansatz steht vor verschiedenen wissenschaftlichen, sozialen und rechtlichen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, um eine zuverlässigen Lügendetektion im Strafrechtssystem zu ermöglichen.[48]
Was wir Euch also vor allen Dingen mitgeben möchten, ist ein kritischer Blick auf die allgemeine Darstellung der Lügenerkennung im öffentlichen Raum - sei es in Filmen, Serien, Videos, Artikeln oder wo auch immer Ihr auf das Thema trefft. Weltweit werden unterschiedliche Instrumente verwendet, um die Lügenerkennung im Strafrechtssystem anwendbar zu machen - eine Allzweckmethode gibt es schlicht und einfach (noch) nicht. Somit bedarf es weiterhin viele Hürden der verschiedensten Art zu überwinden, um Täuschungen und Lügen im Strafrechtssystem einmal zuverlässig identifizieren zu können.
Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Lügenquiz
Testet Euer Wissen und nehmt am Lügenquiz[49] teil:
Lügenquiz - Ein Test zur Wissensüberprüfung
Referenzen
[1] Li, X., Hong, X., Moilanen, A., Huang, X., Pfister, T., Zhao, G. & Pietikäinen, M. (2017). Towards reading hidden emotions: A comparative study of spontaneous micro-expression spotting and recognition methods. IEEE transactions on affective computing, 9(4), 563-577.
[2] Sporer, S. L. & Köhnken, G. (2008). Nonverbale Indikatoren von Täuschung. In R. Volbert & M. Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie (S. 353-363). Göttingen: Hogrefe Verlag.
[3] Sporer, S. L. & Köhnken, G. (2008). Nonverbale Indikatoren von Täuschung. In R. Volbert & M. Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie (S. 353-363). Göttingen: Hogrefe Verlag.
[4] Levine, T. R., Serota, K. B. & Shulman, H. C. (2010). The impact of Lie to Me on viewers’ actual ability to detect deception. Communication research, 37(6), 847-856.
[5] Butler, A. C., Zaromb, F. M., Lyle, K. B. & Roediger III, H. L. (2009). Using popular films to enhance classroom learning: The good, the bad, and the interesting. Psychological Science, 20(9), 1161-1168.
Lügen über Lügen: Alltagslügen und Lügen im Strafrechtssystem
[6] Tosone, C. (2006). Living everyday lies: The experience of self. Clinical Social Work Journal, 34(3), 335-348.
[7] DePaulo, B. M., Kashy, D. A., Kirkendol, S. E., Wyer, M. M. & Epstein, J. A. (1996). Lying in everyday life. Journal of personality and social psychology, 70(5), 979–995.
[8] Serota, K. B., Levine, T. R. & Boster, F. J. (2010). The prevalence of lying in America: Three studies of self-reported lies. Human Communication Research, 36(1), 2-25.
[9] Smith, M. E., Hancock, J. T., Reynolds, L. & Birnholtz, J. (2014). Everyday deception or a few prolific liars? The prevalence of lies in text messaging. Computers in Human Behavior, 41, 220-227.
[10] Verigin, B. L., Meijer, E. H., Bogaard, G. & Vrij, A. (2019). Lie prevalence, lie characteristics and strategies of self-reported good liars. PLOS ONE, 14(12), 1-16.
[11] Bond Jr., C. F. & DePaulo, B. M. (2006). Accuracy of deception judgments. Personality and Social Psychology Review, 10(3), 214-234.
[12] Vrij, A. (2008). Detecting lies and deceit: Pitfalls and opportunities. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons.
[13] Hartwig, M. & Bond Jr., C. F. (2014). Lie detection from multiple cues: A meta‐analysis. Applied Cognitive Psychology, 28(5), 661-676.
[14] Ryan, S., Sherretts, N., Willmott, D., Mojtahedi, D. & Baughman, B. M. (2018). The missing link in training to detect deception and its implications for justice. Safer Communities, 17(1), 33-46.
Methoden der Lügenerkennung
[15] Ekman, P. & Friesen, W. V. (1969). Nonverbal leakage and clues to deception. Psychiatry, 32(1), 88-106.
[16] Yan, W. J., Wu, Q., Liang, J., Chen, Y. H. & Fu, X. (2013). How fast are the leaked facial expressions: The duration of micro-expressions. Journal of Nonverbal Behavior, 37(4), 217-230.
[17] Matsumoto, D. & Hwang, H. S. (2011). Evidence for training the ability to read microexpressions of emotion. Motivation and emotion, 35(2), 181-191.
[18] Tracy, J. L. & Randles, D. (2011). Four models of basic emotions: a review of Ekman and Cordaro, Izard, Levenson, and Panksepp and Watt. Emotion Review, 3(4), 397-405.
[19] Global Deception Research Team (2006). A world of lies. Journal of cross-cultural psychology, 37(1), 60-74.
[20] DePaulo, B. M., Lindsay, J. J., Malone, B. E., Muhlenbruck, L., Charlton, K. & Cooper, H. (2003). Cues to deception. Psychological bulletin, 129(1), 74-118.
[21] Li, X., Hong, X., Moilanen, A., Huang, X., Pfister, T., Zhao, G. & Pietikäinen, M. (2017). Towards reading hidden emotions: A comparative study of spontaneous micro-expression spotting and recognition methods. IEEE transactions on affective computing, 9(4), 563-577.
[22] Lukesch, H. (2003). Erkennbarkeit der Lüge: Alltagstheorien und empirische Befunde. In M. Mayer (Hrsg.), Kulturen der Lüge (S. 121-149). Köln: Böhlau.
[23] Vrij, A. (2008). Detecting lies and deceit: Pitfalls and opportunities. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons.
[24] Zuckerman, M., DePaulo, B. M. & Rosenthal, R. (1981). Verbal and nonverbal communication of deception. Advances in experimental social psychology, 14, 1-59.
[25] DePaulo, B. M., Lindsay, J. J., Malone, B. E., Muhlenbruck, L., Charlton, K. & Cooper, H. (2003). Cues to deception. Psychological bulletin, 129(1), 74-118.
[26] Sporer, S. L. & Schwandt, B. (2007). Moderators of nonverbal indicators of deception: A meta-analytic synthesis. Psychology, Public Policy, and Law, 13(1), 1-34.
Polygraph – der Klassiker unter den Lügendetektoren
[27] Trovillo, P. V. (1938). History of lie detection. Journal of Criminal Law and Criminology, 29(6), 848-881.
[28] Larson, J. A. (1932). Lying and its detection. Chicago: University of Chicago Press.
[29] Synnott, J., Dietzel, D. & Ioannou, M. (2015). A review of the polygraph: history, methodology and current status. Crime Psychology Review, 1(1), 59-83.
[30] Steller, M. (1987). Psychophysiologische Aussagebeurteilung: wissenschaftliche Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten der "Lügendetektion". Göttingen: Hogrefe Verlag.
[31] Gamer, M. & Vossel, G. (2009). Psychophysiologische Aussagebeurteilung: Aktueller Stand und neuere Entwicklungen. Zeitschrift für Neuropsychologie, 20(3), 207-218.
[32] Meijer, E. H., Verschuere, B., Gamer, M., Merckelbach, H., & Ben‐Shakhar, G. (2016). Deception detection with behavioral, autonomic, and neural measures: Conceptual and methodological considerations that warrant modesty. Psychophysiology, 53(5), 593-604.
[33] Gamer, M. & Vossel, G. (2009). Psychophysiologische Aussagebeurteilung: Aktueller Stand und neuere Entwicklungen. Zeitschrift für Neuropsychologie, 20(3), 207-218.
[34] National Research Council. (2003). The polygraph and lie detection. Washington, D.C.: National Academies Press.
[35] National Research Council. (2003). The polygraph and lie detection. Washington, D.C.: National Academies Press.
Glaubhaftigkeitsbeurteilung im deutschen Strafrechtssystem – wie wird es hier gelöst?
[36] Undeutsch, U. (1967). Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen. In U. Undeutsch (Hrsg.), Handbuch der Psychologie. Vol. 11: Forensische Psychologie (S. 26-181). Göttingen: Hogrefe Verlag.
[37] Zuckerman, M., DePaulo, B. M. & Rosenthal, R. (1981). Verbal and nonverbal communication of deception. Advances in experimental social psychology, 14, 1-59.
[38] Breuer, M. M., Sporer, S. L. & Reinhard, M. A. (2005). Subjektive Indikatoren von Täuschung. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 36(4), 189-201.
[39] Undeutsch, U. (1967). Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen. In U. Undeutsch (Hrsg.), Handbuch der Psychologie. Vol. 11: Forensische Psychologie (S. 26-181). Göttingen: Hogrefe Verlag.
[40] Blandón‐Gitlin, I., Pezdek, K., Lindsay, D. S. & Hagen, L. (2009). Criteria‐based content analysis of true and suggested accounts of events. Applied Cognitive Psychology, 23(7), 901-917.
[41] Köhnken, G. (2015). Beurteilung der Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit von Aussagen - was können Gerichte selbst beurteilen und wann ist die Einholung eines Gutachtens sinnvoll? In T. Rotsch, J. Brüning & J. Schady (Hrsg.), Strafrecht, Jugendstrafrecht, Kriminalprävention in Wissenschaft und Praxis (S. 519-534). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
[42] Volbert, R. (1995). Glaubwürdigkeitsbegutachtung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie, 23(1), 20-26.
[43] Johnson, M. K. & Raye, C. L. (1981). Reality monitoring. Psychological review, 88(1), 67-85.
[44] Oberlader, V. A., Naefgen, C., Koppehele-Goseel, J., Quinten, L., Banse, R., & Schmidt, A. F. (2016). Validity of Content-Based Techniques to Distinguish True and Fabricated Statements: A Meta-Analysis. Law and Human Behavior, 40(4), 440-457.
[45] Steller, M. & Köhnken, G. (1989). Criteria Based Statement Analysis. In D. C. Raskin (Hrsg.), Psychological methods in criminal investigation and evidence (S. 217–245). New York: Springer.
[46] Hauch, V., Sporer, S. L., Masip, J. & Blandón-Gitlin, I. (2017). Can credibility criteria be assessed reliably? A meta-analysis of criteria-based content analysis. Psychological Assessment, 29(6), 819-834.
[47] Amado, B. G., Arce, R., Farina, F. & Vilarino, M. (2016). Criteria-Based Content Analysis (CBCA) reality criteria in adults: A meta-analytic review. International Journal of Clinical and Health Psychology, 16(2), 201-210.
Mythos Lügendetektion – Ein Fazit
[48] Farah, M. J., Hutchinson, J. B., Phelps, E. A. & Wagner, A. D. (2014). Functional MRI-based lie detection: scientific and societal challenges. Nature Reviews Neuroscience, 15(2), 123-131.
Rechtspsychologie zum Mitmachen: Das Lügenquiz
[49] Splendid Research GmbH (2018). Studie: Ehrlichkeit - Wie viel Pinocchio steckt in den Deutschen? Eine repräsentative Umfrage unter 1.024 Deutschen zum Thema Ehrlichkeit. https://www.splendid-research.com/de/studie-ehrlichkeit.html